Vorrede
German (1878) vs English (1908)
1.
Es ist mir oft genug und immer mit grossem Befremden ausgedrückt worden, dass es etwas Gemeinsames und Auszeichnendes an allen meinen Schriften gäbe, von der "Geburt der Tragödie" an bis zum letzthin veröffentlichten "Vorspiel einer Philosophie der Zukunft": sie enthielten allesammt, hat man mir gesagt, Schlingen und Netze für unvorsichtige Vögel und beinahe eine beständige unvermerkte Aufforderung zur Umkehrung gewohnter Werthschätzungen und geschätzter Gewohnheiten. Wie? Alles nur - menschlich-allzumenschlich? Mit diesem Seufzer komme man aus meinen Schriften heraus, nicht ohne eine Art Scheu und Misstrauen selbst gegen die Moral, ja nicht übel versucht und ermuthigt, einmal den Fürsprecher der schlimmsten Dinge zu machen: wie als ob sie vielleicht nur die bestverleumdeten seien? Man hat meine Schriften eine Schule des Verdachts genannt, noch mehr der Verachtung, glücklicherweise auch des Muthes, ja der Verwegenheit. In der That, ich selbst glaube nicht, dass jemals jemand mit einem gleich tiefen Verdachte in die Welt gesehn hat, und nicht nur als gelegentlicher Anwalt des Teufels, sondern ebenso sehr, theologisch zu reden, als Feind und Vorforderer Gottes; und wer etwas von den Folgen erräth, die in jedem tiefen Verdachte liegen, etwas von den Frösten und Aengsten der Vereinsamung, zu denen jede unbedingte Verschiedenheit des Blicks den mit ihr Behafteten verurtheilt, wird auch verstehn, wie oft ich zur Erholung von mir, gleichsam zum zeitweiligen Selbstvergessen, irgendwo unterzutreten suchte - in irgend einer Verehrung oder Feindschaft oder Wissenschaftlichkeit oder Leichtfertigkeit oder Dummheit; auch warum ich, wo ich nicht fand, was ich brauchte, es mir künstlich erzwingen, zurecht fälschen, zurecht dichten musste (- und was haben Dichter je Anderes gethan? und wozu wäre alle Kunst in der Welt da?). Was ich aber immer wieder am nöthigsten brauchte, zu meiner Kur und Selbst-Wiederherstellung, das war der Glaube, nicht dergestalt einzeln zu sein, einzeln zu sehn, - ein zauberhafter Argwohn von Verwandtschaft und Gleichheit in Auge und Begierde, ein Ausruhen im Vertrauen der Freundschaft, eine Blindheit zu Zweien ohne Verdacht und Fragezeichen, ein Genuss an Vordergründen, Oberflächen, Nahem, Nächstem, an Allem, was Farbe, Haut und Scheinbarkeit hat. Vielleicht, dass man mir in diesem Betrachte mancherlei "Kunst", mancherlei feinere Falschmünzerei vorrücken könnte: zum Beispiel, dass ich wissentlich-willentlich die Augen vor Schopenhauer's blindem Willen zur Moral zugemacht hätte, zu einer Zeit, wo ich über Moral schon hellsichtig genug war; insgleichen dass ich mich über Richard Wagner's unheilbare Romantik betrogen hätte, wie als ob sie ein Anfang und nicht ein Ende sei; insgleichen über die Griechen, insgleichen über die Deutschen und ihre Zukunft - und es gäbe vielleicht noch eine ganze lange Liste solcher Insgleichen? - gesetzt aber, dies Alles wäre wahr und mit gutem Grunde mir vorgerückt, was wisst ihr davon, was könntet ihr davon wissen, wie viel List der Selbst-Erhaltung, wie viel Vernunft und höhere Obhut in solchem Selbst-Betruge enthalten ist, - und wie viel Falschheit mir noch noth hut, damit ich mir immer wieder den Luxus meiner Wahrhaftigkeit gestatten darf?… Genug, ich lebe noch; und das Leben ist nun einmal nicht von der Moral ausgedacht: es will Täuschung, es lebt von der Täuschung… aber nicht wahr? da beginne ich bereits wieder und thue, was ich immer gethan habe, ich alter Immoralist und Vogelsteller - und rede unmoralisch, aussermoralisch, "jenseits von Gut und Böse"? -
It is often enough, and always with great surprise, intimated to me that there is something both ordinary and unusual in all my writings, from the "Birth of Tragedy" to the recently published "Prelude to a Philosophy of the Future": they all contain, I have been told, snares and nets for short sighted birds, and something that is almost a constant, subtle, incitement to an overturning of habitual opinions and of approved customs. What!? Everything is merely—human—all too human? With this exclamation my writings are gone through, not without a certain dread and mistrust of ethic itself and not without a disposition to ask the exponent of evil things if those things be not simply misrepresented. My writings have been termed a school of distrust, still more of disdain: also, and more happily, of courage, audacity even. And in fact, I myself do not believe that anybody ever looked into the world with a distrust as deep as mine, seeming, as I do, not simply the timely advocate of the devil, but, to employ theological terms, an enemy and challenger of God; and whosoever has experienced any of the consequences of such deep distrust, anything of the chills[6] and the agonies of isolation to which such an unqualified difference of standpoint condemns him endowed with it, will also understand how often I must have sought relief and self-forgetfulness from any source—through any object of veneration or enmity, of scientific seriousness or wanton lightness; also why I, when I could not find what I was in need of, had to fashion it for myself, counterfeiting it or imagining it (and what poet or writer has ever done anything else, and what other purpose can all the art in the world possibly have?) That which I always stood most in need of in order to effect my cure and self-recovery was faith, faith enough not to be thus isolated, not to look at life from so singular a point of view—a magic apprehension (in eye and mind) of relationship and equality, a calm confidence in friendship, a blindness, free from suspicion and questioning, to two sidedness; a pleasure in externals, superficialities, the near, the accessible, in all things possessed of color, skin and seeming. Perhaps I could be fairly reproached with much "art" in this regard, many fine counterfeitings; for example, that, wisely or wilfully, I had shut my eyes to Schopenhauer's blind will towards ethic, at a time when I was already clear sighted enough on the subject of ethic; likewise that I had deceived myself concerning Richard Wagner's incurable romanticism,[7] as if it were a beginning and not an end; likewise concerning the Greeks, likewise concerning the Germans and their future—and there may be, perhaps, a long list of such likewises. Granted, however, that all this were true, and with justice urged against me, what does it signify, what can it signify in regard to how much of the self-sustaining capacity, how much of reason and higher protection are embraced in such self-deception?—and how much more falsity is still necessary to me that I may therewith always reassure myself regarding the luxury of my truth. Enough, I still live; and life is not considered now apart from ethic; it will [have] deception; it thrives (lebt) on deception ... but am I not beginning to do all over again what I have always done, I, the old immoralist, and bird snarer—talk unmorally, ultramorally, "beyond good and evil"?
2.
So habe ich denn einstmals, als ich es nöthig hatte, mir auch die "freien Geister" erfunden, denen dieses schwermüthig-muthige Buch mit dem Titel "Menschliches, Allzumenschliches" gewidmet ist: dergleichen "freie Geister" giebt es nicht, gab es nicht, - aber ich hatte sie damals, wie gesagt, zur Gesellschaft nöthig, um guter Dinge zu bleiben inmitten schlimmer Dinge (Krankheit, Vereinsamung, Fremde, Acedia, Unthätigkeit): als tapfere Gesellen und Gespenster, mit denen man schwätzt und lacht, wenn man Lust hat zu schwätzen und zu lachen, und die man zum Teufel schickt, wenn sie langweilig werden, - als ein Schadenersatz für mangelnde Freunde. Dass es dergleichen freie Geister einmal geben könnte, dass unser Europa unter seinen Söhnen von Morgen und Uebermorgen solche muntere und verwegene Gesellen haben wird, leibhaft und handgreiflich und nicht nur, wie in meinem Falle, als Schemen und Einsiedler-Schattenspiel: daran möchte ich am wenigsten zweifeln. Ich sehe sie bereits kommen, langsam, langsam; und vielleicht thue ich etwas, um ihr Kommen zu beschleunigen, wenn ich zum Voraus beschreibe, unter welchen Schicksalen ich sie entstehn, auf welchen Wegen ich sie kommen sehe?
Thus, then, have I evolved for myself the "free spirits" to whom this discouraging-encouraging work, under the general title "Human, All Too Human," is dedicated. Such "free spirits" do not really exist and never did exist. But I stood in need of them, as I have pointed out, in order that some good might be mixed with my[8] evils (illness, loneliness, strangeness, acedia, incapacity): to serve as gay spirits and comrades, with whom one may talk and laugh when one is disposed to talk and laugh, and whom one may send to the devil when they grow wearisome. They are some compensation for the lack of friends. That such free spirits can possibly exist, that our Europe will yet number among her sons of to-morrow or of the day after to-morrow, such a brilliant and enthusiastic company, alive and palpable and not merely, as in my case, fantasms and imaginary shades, I, myself, can by no means doubt. I see them already coming, slowly, slowly. May it not be that I am doing a little something to expedite their coming when I describe in advance the influences under which I see them evolving and the ways along which they travel?
3.
Man darf vermuthen, dass ein Geist, in dem der Typus "freier Geist" einmal bis zur Vollkommenheit reif und süss werden soll, sein entscheidendes Ereigniss in einer grossen Loslösung gehabt hat, und dass er vorher um so mehr ein gebundener Geist war und für immer an seine Ecke und Säule gefesselt schien. Was bindet am festesten? welche Stricke sind beinahe unzerreissbar? Bei Menschen einer hohen und ausgesuchten Art werden es die Pflichten sein: jene Ehrfurcht, wie sie der Jugend eignet, jene Scheu und Zartheit vor allem Altverehrten und Würdigen, jene Dankbarkeit für den Boden, aus dem sie wuchsen, für die Hand, die sie führte, für das Heiligthum, wo sie anbeten lernten, - ihre höchsten Augenblicke selbst werden sie am festesten binden, am dauerndsten verpflichten. Die grosse Loslösung kommt für solchermaassen Gebundene plötzlich, wie ein Erdstoss: die junge Seele wird mit Einem Male erschüttert, losgerissen, herausgerissen, - sie selbst versteht nicht, was sich begiebt. Ein Antrieb und Andrang waltet und wird über sie Herr wie ein Befehl; ein Wille und Wunsch erwacht, fortzugehn, irgend wohin, um jeden Preis; eine heftige gefährliche Neugierde nach einer unentdeckten Welt flammt und flackert in allen ihren Sinnen. "Lieber sterben als hier leben" - so klingt die gebieterische Stimme und Verführung: und dies "hier", dies "zu Hause" ist Alles, was sie bis dahin geliebt hatte! Ein plötzlicher Schrecken und Argwohn gegen Das, was sie liebte, ein Blitz von Verachtung gegen Das, was ihr "Pflicht" hiess, ein aufrührerisches, willkürliches, vulkanisch stossendes Verlangen nach Wanderschaft, Fremde, Entfremdung, Erkältung, Ernüchterung, Vereisung, ein Hass auf die Liebe, vielleicht ein tempelschänderischer Griff und Blick rückwärts, dorthin, wo sie bis dahin anbetete und liebte, vielleicht eine Gluth der Scham über Das, was sie eben that, und ein Frohlocken zugleich, dass sie es that, ein trunkenes inneres frohlockendes Schaudern, in dem sich ein Sieg verräth - ein Sieg? über was? über wen? ein räthselhafter fragenreicher fragwürdiger Sieg, aber der erste Sieg immerhin: - dergleichen Schlimmes und Schmerzliches gehört zur Geschichte der grossen Loslösung. Sie ist eine Krankheit zugleich, die den Menschen zerstören kann, dieser erste Ausbruch von Kraft und Willen zur Selbstbestimmung, Selbst-Werthsetzung, dieser Wille zum freien Willen: und wie viel Krankheit drückt sich an den wilden Versuchen und Seltsamkeiten aus, mit denen der Befreite, Losgelöste sich nunmehr seine Herrschaft über die Dinge zu beweisen sucht! Er schweift grausam umher, mit einer unbefriedigten Lüsternheit; was er erbeutet, muss die gefährliche Spannung seines Stolzes abbüssen; er zerreisst, was ihn reizt. Mit einem bösen Lachen dreht er um, was er verhüllt, durch irgend eine Scham geschont findet: er versucht, wie diese Dinge aussehn, wenn man sie umkehrt. Es ist Willkür und Lust an der Willkür darin, wenn er vielleicht nun seine Gunst dem zuwendet, was bisher in schlechtem Rufe stand, - wenn er neugierig und versucherisch um das Verbotenste schleicht. Im Hintergrunde seines Treibens und Schweifens - denn er ist unruhig und ziellos unterwegs wie in einer Wüste - steht das Fragezeichen einer immer gefährlicheren Neugierde. "Kann man nicht alle Werthe umdrehn? und ist Gut vielleicht Böse? und Gott nur eine Erfindung und Feinheit des Teufels? Ist Alles vielleicht im letzten Grunde falsch? Und wenn wir Betrogene sind, sind wir nicht eben dadurch auch Betrüger? müssen wir nicht auch Betrüger sein?" - solche Gedanken führen und verführen ihn, immer weiter fort, immer weiter ab. Die Einsamkeit umringt und umringelt ihn, immer drohender, würgender, herzzuschnürender, jene furchtbare Göttin und mater saeva cupidinum - aber wer weiss es heute, was Einsamkeit ist?…
It may be conjectured that a soul in which the type of "free spirit" can attain maturity and completeness had its decisive and deciding event in the form of a great emancipation or unbinding, and that prior to that event it seemed only the more firmly and forever chained to its place and pillar. What binds strongest? What cords seem almost unbreakable? In the case of mortals[9] of a choice and lofty nature they will be those of duty: that reverence, which in youth is most typical, that timidity and tenderness in the presence of the traditionally honored and the worthy, that gratitude to the soil from which we sprung, for the hand that guided us, for the relic before which we were taught to pray—their sublimest moments will themselves bind these souls most strongly. The great liberation comes suddenly to such prisoners, like an earthquake: the young soul is all at once shaken, torn apart, cast forth—it comprehends not itself what is taking place. An involuntary onward impulse rules them with the mastery of command; a will, a wish are developed to go forward, anywhere, at any price; a strong, dangerous curiosity regarding an undiscovered world flames and flashes in all their being. "Better to die than live here"—so sounds the tempting voice: and this "here," this "at home" constitutes all they have hitherto loved. A sudden dread and distrust of that which they loved, a flash of contempt for that which is called their "duty," a mutinous, wilful, volcanic-like longing for a far away journey, strange scenes and people, annihilation, petrifaction, a hatred surmounting love, perhaps a sacrilegious impulse and look backwards, to where they so long prayed and loved, perhaps a flush of shame for what they did and at the same time an exultation[10] at having done it, an inner, intoxicating, delightful tremor in which is betrayed the sense of victory—a victory? over what? over whom? a riddle-like victory, fruitful in questioning and well worth questioning, but the first victory, for all—such things of pain and ill belong to the history of the great liberation. And it is at the same time a malady that can destroy a man, this first outbreak of strength and will for self-destination, self-valuation, this will for free will: and how much illness is forced to the surface in the frantic strivings and singularities with which the freedman, the liberated seeks henceforth to attest his mastery over things! He roves fiercely around, with an unsatisfied longing and whatever objects he may encounter must suffer from the perilous expectancy of his pride; he tears to pieces whatever attracts him. With a sardonic laugh he overturns whatever he finds veiled or protected by any reverential awe: he would see what these things look like when they are overturned. It is wilfulness and delight in the wilfulness of it, if he now, perhaps, gives his approval to that which has heretofore been in ill repute—if, in curiosity and experiment, he penetrates stealthily to the most forbidden things. In the background during all his plunging and roaming—for he is as restless and aimless in his course as if lost in a wilderness—is the interrogation[11] mark of a curiosity growing ever more dangerous. "Can we not upset every standard? and is good perhaps evil? and God only an invention and a subtlety of the devil? Is everything, in the last resort, false? And if we are dupes are we not on that very account dupers also? must we not be dupers also?" Such reflections lead and mislead him, ever further on, ever further away. Solitude, that dread goddess and mater saeva cupidinum, encircles and besets him, ever more threatening, more violent, more heart breaking—but who to-day knows what solitude is?
4.
Von dieser krankhaften Vereinsamung, von der Wüste solcher Versuchs-Jahre ist der Weg noch weit bis zu jener ungeheuren überströmenden Sicherheit und Gesundheit, welche der Krankheit selbst nicht entrathen mag, als eines Mittels und Angelhakens der Erkenntniss, bis zu jener reifen Freiheit des Geistes, welche ebensosehr Selbstbeherrschung und Zucht des Herzens ist und die Wege zu vielen und entgegengesetzten Denkweisen erlaubt -, bis zu jener inneren Umfänglichkeit und Verwöhnung des Ueberreichthums, welche die Gefahr ausschliesst, dass der Geist sich etwa selbst in die eignen Wege verlöre und verliebte und in irgend einem Winkel berauscht sitzen bliebe, bis zu jenem Ueberschuss an plastischen, ausheilenden, nachbildenden und wiederherstellenden Kräften, welcher eben das Zeichen der grossen Gesundheit ist, jener Ueberschuss, der dem freien Geiste das gefährliche Vorrecht giebt, auf den Versuch hin leben und sich dem Abenteuer anbieten zu dürfen: das Meisterschafts-Vorrecht des freien Geistes! Dazwischen mögen lange Jahre der Genesung liegen, Jahre voll vielfarbiger schmerzlich-zauberhafter Wandlungen, beherrscht und am Zügel geführt durch einen zähen Willen zur Gesundheit, der sich oft schon als Gesundheit zu kleiden und zu verkleiden wagt. Es giebt einen mittleren Zustand darin, dessen ein Mensch solchen Schicksals später nicht ohne Rührung eingedenk ist: ein blasses feines Licht und Sonnenglück ist ihm zu eigen, ein Gefühl von Vogel-Freiheit, Vogel-Umblick, Vogel-Uebermuth, etwas Drittes, in dem sich Neugierde und zarte Verachtung gebunden haben. Ein "freier Geist" - dies kühle Wort thut in jenem Zustande wohl, es wärmt beinahe. Man lebt, nicht mehr in den Fesseln von Liebe und Hass, ohne ja, ohne Nein, freiwillig nahe, freiwillig ferne, am liebsten entschlüpfend, ausweichend, fortflatternd, wieder weg, wieder empor fliegend; man ist verwöhnt, wie Jeder, der einmal ein ungeheures Vielerlei unter sich gesehn hat, - und man ward zum Gegenstück Derer, welche sich um Dinge bekümmern, die sie nichts angehn. In der That, den freien Geist gehen nunmehr lauter Dinge an - und wie viele Dinge! - welche ihn nicht mehr bekümmern…
From this morbid solitude, from the deserts of such trial years, the way is yet far to that great, overflowing certainty and healthiness which cannot dispense even with sickness as a means and a grappling hook of knowledge; to that matured freedom of the spirit which is, in an equal degree, self mastery and discipline of the heart, and gives access to the path of much and various reflection—to that inner comprehensiveness and self satisfaction of over-richness which precludes all danger that the spirit has gone astray even in its own path and is sitting intoxicated in some corner or other; to that overplus[12] of plastic, healing, imitative and restorative power which is the very sign of vigorous health, that overplus which confers upon the free spirit the perilous prerogative of spending a life in experiment and of running adventurous risks: the past-master-privilege of the free spirit. In the interval there may be long years of convalescence, years filled with many hued painfully-bewitching transformations, dominated and led to the goal by a tenacious will for health that is often emboldened to assume the guise and the disguise of health. There is a middle ground to this, which a man of such destiny can not subsequently recall without emotion; he basks in a special fine sun of his own, with a feeling of birdlike freedom, birdlike visual power, birdlike irrepressibleness, a something extraneous (Drittes) in which curiosity and delicate disdain have united. A "free spirit"—this refreshing term is grateful in any mood, it almost sets one aglow. One lives—no longer in the bonds of love and hate, without a yes or no, here or there indifferently, best pleased to evade, to avoid, to beat about, neither advancing nor retreating. One is habituated to the bad, like a person who all at once sees a fearful hurly-burly beneath him—and one was the counterpart of him who bothers himself with things that do not concern him. As a matter of fact the free spirit is bothered[13] with mere things—and how many things—which no longer concern him.
5.
Ein Schritt weiter in der Genesung: und der freie Geist nähert sich wieder dem Leben, langsam freilich, fast widerspänstig, fast misstrauisch. Es wird wieder wärmer um ihn, gelber gleichsam; Gefühl und Mitgefühl bekommen Tiefe, Thauwinde aller Art gehen über ihn weg. Fast ist ihm zu Muthe, als ob ihm jetzt erst die Augen für das Nahe aufgiengen. Er ist verwundert und sitzt stille: wo war er doch? Diese nahen und nächsten Dinge: wie scheinen sie ihm verwandelt! welchen Flaum und Zauber haben sie inzwischen bekommen! Er blickt dankbar zurück, - dankbar seiner Wanderschaft, seiner Härte und Selbstentfremdung, seinen Fernblicken und Vogelflügen in kalte Höhen. Wie gut, dass er nicht wie ein zärtlicher dumpfer Eckensteher immer "zu Hause", immer "bei sich" geblieben ist! er war ausser sich: es ist kein Zweifel. Jetzt erst sieht er sich selbst -, und welche Ueberraschungen findet er dabei! Welche unerprobten Schauder! Welches Glück noch in der Müdigkeit, der alten Krankheit, den Rückfällen des Genesenden! Wie es ihm gefällt, leidend stillzusitzen, Geduld zu spinnen, in der Sonne zu liegen! Wer versteht sich gleich ihm auf das Glück im Winter, auf die Sonnenflecke an der Mauer! Es sind die dankbarsten Thiere von der Welt, auch die bescheidensten, diese dem Leben wieder halb zugewendeten Genesenden und Eidechsen: - es giebt solche unter ihnen, die keinen Tag von sich lassen, ohne ihm ein kleines Loblied an den nachschleppenden Saum zu hängen. Und ernstlich geredet: es ist eine gründliche Kur gegen allen Pessimismus (den Krebsschaden alter Idealisten und Lügenbolde, wie bekannt -) auf die Art dieser freien Geister krank zu werden, eine gute Weile krank zu bleiben und dann, noch länger, noch länger, gesund, ich meine "gesünder" zu werden. Es ist Weisheit darin, Lebens-Weisheit, sich die Gesundheit selbst lange Zeit nur in kleinen Dosen zu verordnen.
A step further in recovery: and the free spirit draws near to life again, slowly indeed, almost refractorily, almost distrustfully. There is again warmth and mellowness: feeling and fellow feeling acquire depth, lambent airs stir all about him. He almost feels: it seems as if now for the first time his eyes are open to things near. He is in amaze and sits hushed: for where had he been? These near and immediate things: how changed they seem to him! He looks gratefully back—grateful for his wandering, his self exile and severity, his lookings afar and his bird flights in the cold heights. How fortunate that he has not, like a sensitive, dull home body, remained always "in the house" and "at home!" He had been beside himself, beyond a doubt. Now for the first time he really sees himself—and what surprises in the process. What hitherto unfelt tremors! Yet what joy in the exhaustion, the old sickness, the relapses of the convalescent! How it delights him, suffering, to sit still, to exercise patience, to lie in the sun! Who so well as he appreciates the fact that there comes balmy weather even in winter, who delights more in the[14] sunshine athwart the wall? They are the most appreciative creatures in the world, and also the most humble, these convalescents and lizards, crawling back towards life: there are some among them who can let no day slip past them without addressing some song of praise to its retreating light. And speaking seriously, it is a fundamental cure for all pessimism (the cankerous vice, as is well known, of all idealists and humbugs), to become ill in the manner of these free spirits, to remain ill quite a while and then bit by bit grow healthy—I mean healthier. It is wisdom, worldly wisdom, to administer even health to oneself for a long time in small doses.
6.
Um jene Zeit mag es endlich geschehn, unter den plötzlichen Lichtern einer noch ungestümen, noch wechselnden Gesundheit, dass dem freien, immer freieren Geiste sich das Räthsel jener grossen Loslösung zu entschleiern beginnt, welches bis dahin dunkel, fragwürdig, fast unberührbar in seinem Gedächtniss gewartet hatte. Wenn er sich lange kaum zu fragen wagte "warum so abseits? so allein? Allem entsagend, was ich verehrte? der Verehrung selbst entsagend? warum diese Härte, dieser Argwohn, dieser Hass auf die eigenen Tugenden?" - jetzt wagt und fragt er es laut und hört auch schon etwas wie Antwort darauf. "Du solltest Herr über dich werden, Herr auch über die eigenen Tugenden. Früher waren sie deine Herren; aber sie dürfen nur deine Werkzeuge neben andren Werkzeugen sein. Du solltest Gewalt über dein Für und Wider bekommen und es verstehn lernen, sie aus- und wieder einzuhängen, je nach deinem höheren Zwecke. Du solltest das Perspektivische in jeder Werthschätzung begreifen lernen - die Verschiebung, Verzerrung und scheinbare Teleologie der Horizonte und was Alles zum Perspektivischen gehört; auch das Stück Dummheit in Bezug auf entgegengesetzte Werthe und die ganze intellektuelle Einbusse, mit der sich jedes Für, jedes Wider bezahlt macht. Du solltest die nothwendige Ungerechtigkeit in jedem Für und Wider begreifen lernen, die Ungerechtigkeit als unablösbar vom Leben, das Leben selbst als bedingt durch das Perspektivische und seine Ungerechtigkeit. Du solltest vor Allem mit Augen sehn, wo die Ungerechtigkeit immer am grössten ist: dort nämlich, wo das Leben am kleinsten, engsten, dürftigsten, anfänglichsten entwickelt ist und dennoch nicht umhin kann, sich als Zweck und Maass der Dinge zu nehmen und seiner Erhaltung zu Liebe das Höhere, Grössere, Reichere heimlich und kleinlich und unablässig anzubröckeln und in Frage zu stellen, - du solltest das Problem der Rangordnung mit Augen sehn und wie Macht und Recht und Umfänglichkeit der Perspektive mit einander in die Höhe wachsen. Du solltest" - genug, der freie Geist weiss nunmehr, welchem "du sollst" er gehorcht hat, und auch, was er jetzt kann, was er jetzt erst - darf…
About this time it becomes at last possible, amid the flash lights of a still unestablished, still precarious health, for the free, the ever freer spirit to begin to read the riddle of that great liberation, a riddle which has hitherto lingered, obscure, well worth questioning, almost impalpable, in his memory. If once he hardly dared to ask "why so apart? so alone? renouncing all I loved? renouncing respect itself? why this coldness, this suspicion, this hate for one's very virtues?"—now he dares, and asks it loudly, already[15] hearing the answer, "you had to become master over yourself, master of your own good qualities. Formerly they were your masters: but they should be merely your tools along with other tools. You had to acquire power over your aye and no and learn to hold and withhold them in accordance with your higher aims. You had to grasp the perspective of every representation (Werthschätzung)—the dislocation, distortion and the apparent end or teleology of the horizon, besides whatever else appertains to the perspective: also the element of demerit in its relation to opposing merit, and the whole intellectual cost of every affirmative, every negative. You had to find out the inevitable error1 in every Yes and in every No, error as inseparable from life, life itself as conditioned by the perspective and its inaccuracy.1 Above all, you had to see with your own eyes where the error1 is always greatest: there, namely, where life is littlest, narrowest, meanest, least developed and yet cannot help looking upon itself as the goal and standard of things, and smugly and ignobly and incessantly tearing to tatters all that is highest and greatest and richest, and putting the shreds into the form of questions from the standpoint of its own well being. You had to see with your own eyes [16]the problem of classification, (Rangordnung, regulation concerning rank and station) and how strength and sweep and reach of perspective wax upward together: You had"—enough, the free spirit knows henceforward which "you had" it has obeyed and also what it now can do and what it now, for the first time, dare.
1 Ungerechtigkeit, literally wrongfulness, injustice, unrighteousness.
7.
Dergestalt giebt der freie Geist sich in Bezug auf jenes Räthsel von Loslösung Antwort und endet damit, indem er seinen Fall verallgemeinert, sich über sein Erlebniss also zu entscheiden. "Wie es mir ergieng, sagt er sich, muss es jedem ergehn, in dem eine Aufgabe leibhaft werden und zur Welt kommen will." Die heimliche Gewalt und Nothwendigkeit dieser Aufgabe wird unter und in seinen einzelnen Schicksalen walten gleich einer unbewussten Schwangerschaft, - lange, bevor er diese Aufgabe selbst in's Auge gefasst hat und ihren Namen weiss. Unsre Bestimmung verfügt über uns, auch wenn wir sie noch nicht kennen; es ist die Zukunft, die unserm Heute die Regel giebt. Gesetzt, dass es das Problem der Rangordnung ist, von dem wir sagen dürfen, dass es unser Problem ist, wir freien Geister: jetzt, in dem Mittage unsres Lebens, verstehn wir es erst, was für Vorbereitungen, Umwege, Proben, Versuchungen, Verkleidungen das Problem nöthig hatte, ehe es vor uns aufsteigen durfte, und wie wir erst die vielfachsten und widersprechendsten Noth- und Glücksstände an Seele und Leib erfahren mussten, als Abenteurer und Weltumsegler jener inneren Welt, die "Mensch" heisst, als Ausmesser jedes "Höher" und "Uebereinander", das gleichfalls "Mensch" heisst - überallhin dringend, fast ohne Furcht, nichts verschmähend, nichts verlierend, alles auskostend, alles vom Zufälligen reinigend und gleichsam aussiebend - bis wir endlich sagen durften, wir freien Geister: "Hier - ein neues Problem! Hier eine lange Leiter, auf deren Sprossen wir selbst gesessen und gestiegen sind, - die wir selbst irgend wann gewesen sind! Hier ein Höher, ein Tiefer, ein Unter-uns, eine ungeheure lange Ordnung, eine Rangordnung, die wir sehen hier - unser Problem!" -
Accordingly, the free spirit works out for itself an answer to that riddle of its liberation and concludes by generalizing upon its experience in the following fashion: "What I went through everyone must go through" in whom any problem is germinated and strives to body itself forth. The inner power and inevitability of this problem will assert themselves in due course, as in the case of any unsuspected pregnancy—long before the spirit has seen this problem in its true aspect and learned to call it by its right name. Our destiny exercises its influence over us even when, as yet, we have not learned its nature: it is our future that lays down the law to our to-day. Granted, that it is the problem of classification2 of which we free spirits may say, this is our problem, yet it is only now, in the midday [17]of our life, that we fully appreciate what preparations, shifts, trials, ordeals, stages, were essential to that problem before it could emerge to our view, and why we had to go through the various and contradictory longings and satisfactions of body and soul, as circumnavigators and adventurers of that inner world called "man"; as surveyors of that "higher" and of that "progression"3 that is also called "man"—crowding in everywhere, almost without fear, disdaining nothing, missing nothing, testing everything, sifting everything and eliminating the chance impurities—until at last we could say, we free spirits: "Here—a new problem! Here, a long ladder on the rungs of which we ourselves have rested and risen, which we have actually been at times. Here is a something higher, a something deeper, a something below us, a vastly extensive order, (Ordnung) a comparative classification (Rangordnung), that we perceive: here—our problem!"
2 Rangordnung: the meaning is "the problem of grasping the relative importance of things."
3 Uebereinander: one over another.
8.
Es wird keinem Psychologen und Zeichendeuter einen Augenblick verborgen bleiben, an welche Stelle der eben geschilderten Entwicklung das vorliegende Buch gehört (oder gestellt ist -). Aber wo giebt es heute Psychologen? In Frankreich, gewiss; vielleicht in Russland; sicherlich nicht in Deutschland. Es fehlt nicht an Gründen, weshalb sich dies die heutigen Deutschen sogar noch zur Ehre anrechnen könnten: schlimm genug für Einen, der in diesem Stücke undeutsch geartet und gerathen ist! Dies deutsche Buch, welches in einem weiten Umkreis von Ländern und Völkern seine Leser zu finden gewusst hat - es ist ungefähr zehn Jahr unterwegs - und sich auf irgend welche Musik und Flötenkunst verstehn muss, durch die auch spröde Ausländer-Ohren zum Horchen verführt werden, - gerade in Deutschland ist dies Buch am nachlässigsten gelesen, am schlechtesten gehört worden: woran liegt das? - "Es verlangt zu viel, hat man mir geantwortet, es wendet sich an Menschen ohne die Drangsal grober Pflichten, es will feine und verwöhnte Sinne, es hat Ueberfluss nöthig, Ueberfluss an Zeit, an Helligkeit des Himmels und Herzens, an otium im verwegensten Sinne: - lauter gute Dinge, die wir Deutschen von Heute nicht haben und also auch nicht geben können." - Nach einer so artigen Antwort räth mir meine Philosophie, zu schweigen und nicht mehr weiter zu fragen; zumal man in gewissen Fällen, wie das Sprüchwort andeutet, nur dadurch Philosoph bleibt, dass man - schweigt.
Nizza, im Frühling 1886.
To what stage in the development just outlined the present book belongs (or is assigned) is something that will be hidden from no augur or [18]psychologist for an instant. But where are there psychologists to-day? In France, certainly; in Russia, perhaps; certainly not in Germany. Grounds are not wanting, to be sure, upon which the Germans of to-day may adduce this fact to their credit: unhappily for one who in this matter is fashioned and mentored in an un-German school! This German book, which has found its readers in a wide circle of lands and peoples—it has been some ten years on its rounds—and which must make its way by means of any musical art and tune that will captivate the foreign ear as well as the native—this book has been read most indifferently in Germany itself and little heeded there: to what is that due? "It requires too much," I have been told, "it addresses itself to men free from the press of petty obligations, it demands fine and trained perceptions, it requires a surplus, a surplus of time, of the lightness of heaven and of the heart, of otium in the most unrestricted sense: mere good things that we Germans of to-day have not got and therefore cannot give." After so graceful a retort, my philosophy bids me be silent and ask no more questions: at times, as the proverb says, one remains a philosopher only because one says—nothing!
Nice, Spring, 1886.