Zur Geschichte der moralischen Empfindungen

German (1878) vs English (1908)

35.

Vortheile der psychologischen Beobachtung. - Dass das Nachdenken über Menschliches, Allzumenschliches - oder wie der gelehrtere Ausdruck lautet: die psychologische Beobachtung - zu den Mitteln gehöre, vermöge deren man sich die Last des Lebens erleichtern könne, dass die Uebung in dieser Kunst Geistesgegenwart in schwierigen Lagen und Unterhaltung inmitten einer langweiligen Umgebung verleihe, ja dass man den dornenvollsten und unerfreulichsten Strichen des eigenen Lebens Sentenzen abpflücken und sich dabei ein Wenig wohler fühlen könne: das glaubte man, wusste man - in früheren Jahrhunderten. Warum vergass es dieses Jahrhundert, wo wenigstens in Deutschland, ja in Europa, die Armuth an psychologischer Beobachtung durch viele Zeichen sich zu erkennen giebt? Nicht gerade in Roman, Novelle und philosophischer Betrachtung, - diese sind das Werk von Ausnahmemenschen; schon mehr in der Beurtheilung öffentlicher Ereignisse und Persönlichkeiten: vor Allem aber fehlt die Kunst der psychologischen Zergliederung und Zusammenrechnung in der Gesellschaft aller Stände, in der man wohl viel über Menschen, aber gar nicht über den Menschen spricht. Warum doch lässt man sich den reichsten und harmlosesten Stoff der Unterhaltung entgehen? Warum liest man nicht einmal die grossen Meister der psychologischen Sentenz mehr? - denn, ohne jede Uebertreibung gesprochen: der Gebildete in Europa, der La Rochefoucauld und seine Geistes- und Kunstverwandten gelesen hat, ist selten zu finden; und noch viel seltener Der, welcher sie kennt und sie nicht schmäht. Wahrscheinlich wird aber auch dieser ungewöhnliche Leser viel weniger Freude an ihnen haben, als die Form jener Künstler ihm geben sollte; denn selbst der feinste Kopf ist nicht vermögend, die Kunst der Sentenzen-Schleiferei gebührend zu würdigen, wenn er nicht selber zu ihr erzogen ist, in ihr gewetteifert hat. Man nimmt, ohne solche practische Belehrung, dieses Schaffen und Formen für leichter als es ist, man fühlt das Gelungene und Reizvolle nicht scharf genug heraus. Desshalb haben die jetzigen Leser von Sentenzen ein verhältnissmässig unbedeutendes Vergnügen an ihnen, ja kaum einen Mund voll Annehmlichkeit, so dass es ihnen ebenso geht, wie den gewöhnlichen Betrachtern von Kameen: als welche loben, weil sie nicht lieben können und schnell bereit sind zu bewundern, schneller aber noch, fortzulaufen.

Advantages of Psychological Observation.—That reflection regarding the human, all-too-human—or as the learned jargon is: psychological observation—is among the means whereby the burden of life can be made lighter, that practice in this art affords presence of mind in difficult situations and entertainment amid a wearisome environment, aye, that maxims may be culled in the thorniest and least pleasing paths of life and invigoration thereby obtained: this much was believed, was known—in former centuries. Why was this forgotten in our own century, during which, at least in Germany, yes in Europe, poverty as regards psychological observation would have been manifest in many ways had there been anyone to whom this poverty could have manifested itself. Not only in the novel, in the romance, in philosophical standpoints—these are the works of exceptional men; still more in the state of opinion regarding public events and personages; above all in general society, which says much about men but[68] nothing whatever about man, there is totally lacking the art of psychological analysis and synthesis. But why is the richest and most harmless source of entertainment thus allowed to run to waste? Why is the greatest master of the psychological maxim no longer read?—for, with no exaggeration whatever be it said: the educated person in Europe who has read La Rochefoucauld and his intellectual and artistic affinities is very hard to find; still harder, the person who knows them and does not disparage them. Apparently, too, this unusual reader takes far less pleasure in them than the form adopted by these artists should afford him: for the subtlest mind cannot adequately appreciate the art of maxim-making unless it has had training in it, unless it has competed in it. Without such practical acquaintance, one is apt to look upon this making and forming as a much easier thing than it really is; one is not keenly enough alive to the felicity and the charm of success. Hence present day readers of maxims have but a moderate, tempered pleasure in them, scarcely, indeed, a true perception of their merit, so that their experiences are about the same as those of the average beholder of cameos: people who praise because they cannot appreciate, and are very ready to admire and still readier to turn away.

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36.

Einwand.- Oder sollte es gegen jenen Satz, dass die psychologische Beobachtung zu den Reiz-, Heil- und Erleichterungsmitteln des Daseins gehöre, eine Gegenrechnung geben? Sollte man sich genug von den unangenehmen Folgen dieser Kunst überzeugt haben, um jetzt mit Absichtlichkeit den Blick der sich Bildenden von ihr abzulenken? In der That, ein gewisser blinder Glaube an die Güte der menschlichen Natur, ein eingepflanzter Widerwille vor der Zerlegung menschlicher Handlungen, eine Art Schamhaftigkeit in Hinsicht auf die Nacktheit der Seele mögen wirklich für das gesammte Glück eines Menschen wünschenswerthere Dinge sein, als jene, in einzelnen Fällen hilfreiche Eigenschaft der psychologischen Scharfsichtigkeit; und vielleicht hat der Glaube an das Gute, an tugendhafte Menschen und Handlungen, an eine Fülle des unpersönlichen Wohlwollens in der Welt die Menschen besser gemacht, insofern er dieselben weniger misstrauisch machte. Wenn man die Helden Plutarch's mit Begeisterung nachahmt, und einen Abscheu davor empfindet, den Motiven ihres Handelns anzweifelnd nachzuspüren, so hat zwar nicht die Wahrheit, aber die Wohlfahrt der menschlichen Gesellschaft ihren Nutzen dabei: der psychologische Irrthum und überhaupt die Dumpfheit auf diesem Gebiete hilft der Menschlichkeit vorwärts, während die Erkenntniss der Wahrheit vielleicht durch die anregende Kraft einer Hypothese mehr gewinnt, wie sie La Rochefoucauld der ersten Ausgabe seiner "Sentences et maximes morales" vorangestellt hat: "Ce que le monde nomme vertu n'est d'ordinaire qu'un fantôame formé par nos passions, à qui on donne un nom honnête pour faire impunément ce qu'on veut." La Rochefoucauld und jene anderen französischen Meister der Seelenprüfung (denen sich neuerdings auch ein Deutscher, der Verfasser der "Psychologischen Beobachtungen" zugesellt hat) gleichen scharf zielenden Schützen, welche immer und immer wieder in's Schwarze treffen, - aber in's Schwarze der menschlichen Natur. Ihr Geschick erregt Staunen, aber endlich verwünscht ein Zuschauer, der nicht vom Geiste der Wissenschaft, sondern der Menschenfreundlichkeit geleitet wird, eine Kunst, welche den Sinn der Verkleinerung und Verdächtigung in die Seelen der Menschen zu pflanzen scheint.

Objection.—Or is there a counter-proposition to the dictum that psychological observation is one of the means of consoling, lightening, charming existence? Have enough of the unpleasant effects of this art been experienced to justify the person striving for culture in turning his regard away from it? In all truth, a certain blind faith in the goodness of human nature, an implanted distaste for any disparagement of human concerns, a sort of shamefacedness at the nakedness of the soul, may be far more desirable things in the general happiness of a man, than this only occasionally advantageous quality of psychological sharpsightedness; and perhaps belief in the good, in virtuous men and actions, in a plenitude of disinterested benevolence has been more productive of good in the world of men in so far as it has made men less distrustful. If Plutarch's heroes are enthusiastically imitated and a reluctance is experienced to looking too critically into the motives of their actions, not the knowledge but the welfare of human society is promoted thereby: psychological error and above all obtuseness in regard to it, help human nature forward, whereas knowledge of the truth is more promoted by means of the stimulating strength of a hypothesis; as La Rochefoucauld[70] in the first edition of his "Sentences and Moral Maxims" has expressed it: "What the world calls virtue is ordinarily but a phantom created by the passions, and to which we give a good name in order to do whatever we please with impunity." La Rochefoucauld and those other French masters of soul-searching (to the number of whom has lately been added a German, the author of "Psychological Observations") are like expert marksmen who again and again hit the black spot—but it is the black spot in human nature. Their art inspires amazement, but finally some spectator, inspired, not by the scientific spirit but by a humanitarian feeling, execrates an art that seems to implant in the soul a taste for belittling and impeaching mankind.

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Trotzdem.- Wie es sich nun mit Rechnung und Gegenrechnung verhalte: in dem gegenwärtigen Zustande einer bestimmten einzelnen Wissenschaft ist die Auferweckung der moralischen Beobachtung nöthig geworden, und der grausame Anblick des psychologischen Secirtisches und seiner Messer und Zangen kann der Menschheit nicht erspart bleiben. Denn hier gebietet jene Wissenschaft, welche nach Ursprung und Geschichte der sogenannten moralischen Empfindungen fragt und welche im Fortschreiten die verwickelten sociologischen Probleme aufzustellen und zu lösen hat: - die ältere Philosophie kennt die letzteren gar nicht und ist der Untersuchung von Ursprung und Geschichte der moralischen Empfindungen unter dürftigen Ausflüchten immer aus dem Wege gegangen. Mit welchen Folgen: das lässt sich jetzt sehr deutlich überschauen, nachdem an vielen Beispielen nachgewiesen ist, wie die Irrthümer der grössten Philosophen gewöhnlich ihren Ausgangspunct in einer falschen Erklärung bestimmter menschlicher Handlungen und Empfindungen haben, wie auf Grund einer irrthümlichen Analysis, zum Beispiel der sogenannten unegoistischen Handlungen, eine falsche Ethik sich aufbaut, dieser zu Gefallen dann wiederum Religion und mythologisches Unwesen zu Hülfe genommen werden, und endlich die Schatten dieser trüben Geister auch in die Physik und die gesammte Weltbetrachtung hineinfallen. Steht es aber fest, dass die Oberflächlichkeit der psychologischen Beobachtung dem menschlichen Urtheilen und Schliessen die gefährlichsten Fallstricke gelegt hat und fortwährend von Neuem legt, so bedarf es jetzt jener Ausdauer der Arbeit, welche nicht müde wird, Steine auf Steine, Steinchen auf Steinchen zu häufen, so bedarf es der enthaltsamen Tapferkeit, um sich einer solchen bescheidenen Arbeit nicht zu schämen und jeder Missachtung derselben Trotz zu bieten. Es ist wahr: zahllose einzelne Bemerkungen über Menschliches und Allzumenschliches sind in Kreisen der Gesellschaft zuerst entdeckt und ausgesprochen worden, welche gewohnt waren, nicht der wissenschaftlichen Erkenntniss, sondern einer geistreichen Gefallsucht jede Art von Opfern darzubringen; und fast unlösbar hat sich der Duft jener alten Heimath der moralistischen Sentenz - ein sehr verführerischer Duft - der ganzen Gattung angehängt: so dass seinetwegen der wissenschaftliche Mensch unwillkürlich einiges Misstrauen gegen diese Gattung und ihre Ernsthaftigkeit merken lässt. Aber es genügt, auf die Folgen zu verweisen: denn schon jetzt beginnt sich zu zeigen, welche Ergebnisse ernsthaftester Art auf dem Boden der psychologischen Beobachtung aufwachsen. Welches ist doch der Hauptsatz zu dem einer der kühnsten und kältesten Denker, der Verfasser des Buches "Ueber den Ursprung der moralischen Empfindungen" vermöge seiner ein- und durchschneidenden Analysen des menschlichen Handelns gelangt? "Der moralische Mensch, sagt er, steht der intelligiblen (metaphysischen) Welt nicht näher, als der physische Mensch." Dieser Satz, hart und schneidig geworden unter dem Hammerschlag der historischen Erkenntniss, kann vielleicht einmal, in irgendwelcher Zukunft, als die Axt dienen, welche dem "metaphysischen Bedürfniss" der Menschen an die Wurzel gelegt wird, - ob mehr zum Segen, als zum Fluche der allgemeinen Wohlfahrt, wer wüsste das zu sagen? - aber jedenfalls als ein Satz der erheblichsten Folgen, fruchtbar und furchtbar zugleich, und mit jenem Doppelgesichte in die Welt sehend, welches alle grossen Erkenntnisse haben.

Nevertheless.—The matter therefore, as regards pro and con, stands thus: in the present state of philosophy an awakening of the moral observation is essential. The repulsive aspect of psychological dissection, with the knife and tweezers entailed by the process, can no longer be spared humanity. Such is the imperative duty of any science that investigates the origin and history of the so-called moral feelings and[71] which, in its progress, is called upon to posit and to solve advanced social problems:—The older philosophy does not recognize the newer at all and, through paltry evasions, has always gone astray in the investigation of the origin and history of human estimates (Werthschätzungen). With what results may now be very clearly perceived, since it has been shown by many examples, how the errors of the greatest philosophers have their origin in a false explanation of certain human actions and feelings; how upon the foundation of an erroneous analysis (for example, of the so called disinterested actions), a false ethic is reared, to support which religion and like mythological monstrosities are called in, until finally the shades of these troubled spirits collapse in physics and in the comprehensive world point of view. But if it be established that superficiality of psychological observation has heretofore set the most dangerous snares for human judgment and deduction, and will continue to do so, all the greater need is there of that steady continuance of labor that never wearies putting stone upon stone, little stone upon little stone; all the greater need is there of a courage that is not ashamed of such humble labor and that will oppose persistence, to all contempt. It is, finally, also true that countless single observations concerning the human, all-too-human,[72] have been first made and uttered in circles accustomed, not to furnish matter for scientific knowledge, but for intellectual pleasure-seeking; and the original home atmosphere—a very seductive atmosphere—of the moral maxim has almost inextricably interpenetrated the entire species, so that the scientific man involuntarily manifests a sort of mistrust of this species and of its seriousness. But it is sufficient to point to the consequences: for already it is becoming evident that events of the most portentous nature are developing in the domain of psychological observation. What is the leading conclusion arrived at by one of the subtlest and calmest of thinkers, the author of the work "Concerning the Origin of the Moral Feelings", as a result of his thorough and incisive analysis of human conduct? "The moral man," he says, "stands no nearer the knowable (metaphysical) world than the physical man."19 This dictum, grown hard and cutting beneath the hammer-blow of historical knowledge, can some day, perhaps, in some future or other, serve as the axe that will be laid to the root of the "metaphysical necessities" of men—whether more to the blessing than to the banning of universal well [73]being who can say?—but in any event a dictum fraught with the most momentous consequences, fruitful and fearful at once, and confronting the world in the two faced way characteristic of all great facts.

19 "Der moralische Mensch, sagt er, steht der intelligiblen (metaphysischen) Welt nicht näher, als der physische Mensch."

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Inwiefern nützlich. - Also: ob die psychologische Beobachtung mehr Nutzen oder Nachtheil über die Menschen bringe, das bleibe immerhin unentschieden; aber fest steht, dass sie nothwendig ist, weil die Wissenschaft ihrer nicht entrathen kann. Die Wissenschaft aber kennt keine Rücksichten auf letzte Zwecke, ebenso wenig als die Natur sie kennt: sondern wie diese gelegentlich Dinge von der höchsten Zweckmässigkeit zu Stande bringt, ohne sie gewollt zu haben, so wird auch die ächte Wissenschaft, als die Nachahmung der Natur in Begriffen, den Nutzen und die Wohlfahrt der Menschen gelegentlich, ja vielfach, fördern und das Zweckmässige erreichen, - aber ebenfalls ohne es gewollt zu haben. Wem es aber bei dem Anhauche einer solchen Betrachtungsart gar zu winterlich zu Muthe wird, der hat vielleicht nur zu wenig Feuer in sich: er möge sich indessen umsehen und er wird Krankheiten wahrnehmen, in denen Eisumschläge noth thun, und Menschen, welche so aus Gluth und Geist "zusammengeknetet" sind, dass sie kaum irgendwo die Luft kalt und schneidend genug für sich finden. Ueberdiess: wie allzu ernste Einzelne und Völker ein Bedürfniss nach Leichtfertigkeiten haben, wie andere allzu Erregbare und Bewegliche zeitweilig schwere niederdrückende Lasten zu ihrer Gesundheit nöthig haben: sollten wir, die geistigeren Menschen eines Zeitalters, welches ersichtlich immer mehr in Brand geräth, nicht nach allen löschenden und kühlenden Mitteln, die es giebt, greifen müssen, damit wir wenigstens so stetig, harmlos und mässig bleiben, als wir es noch sind, und so vielleicht einmal dazu brauchbar werden, diesem Zeitalter als Spiegel und Selbstbesinnung über sich zu dienen? -

To What Extent Useful.—Therefore, whether psychological observation is more an advantage than a disadvantage to mankind may always remain undetermined: but there is no doubt that it is necessary, because science can no longer dispense with it. Science, however, recognizes no considerations of ultimate goals or ends any more than nature does; but as the latter duly matures things of the highest fitness for certain ends without any intention of doing it, so will true science, doing with ideas what nature does with matter,20 promote the purposes and the welfare of humanity, (as occasion may afford, and in many ways) and attain fitness [to ends]—but likewise without having intended it.

20 als die Nachahmung der Natur in Begriffen, literally: "as the counterfeit of nature in (regard to) ideas."

He to whom the atmospheric conditions of such a prospect are too wintry, has too little fire in him: let him look about him, and he will [74]become sensible of maladies requiring an icy air, and of people who are so "kneaded together" out of ardor and intellect that they can scarcely find anywhere an atmosphere too cold and cutting for them. Moreover: as too serious individuals and nations stand in need of trivial relaxations; as others, too volatile and excitable require onerous, weighty ordeals to render them entirely healthy: should not we, the more intellectual men of this age, which is swept more and more by conflagrations, catch up every cooling and extinguishing appliance we can find that we may always remain as self contained, steady and calm as we are now, and thereby perhaps serve this age as its mirror and self reflector, when the occasion arises?

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Die Fabel von der intelligibelen Freiheit. - Die Geschichte der Empfindungen, vermöge deren wir jemanden verantwortlich machen, also der sogenannten moralischen Empfindungen verläuft, in folgenden Hauptphasen. Zuerst nennt man einzelne Handlungen gut oder böse ohne alle Rücksicht auf deren Motive, sondern allein der nützlichen oder schädlichen Folgen wegen. Bald aber vergisst man die Herkunft dieser Bezeichnungen und wähnt, dass den Handlungen an sich, ohne Rücksicht auf deren Folgen, die Eigenschaft "gut" oder "böse" innewohne: mit demselben Irrthume, nach welchem die Sprache den Stein selber als hart, den Baum selber als grün bezeichnet - also dadurch, dass man, was Wirkung ist, als Ursache fasst. Sodann legt man das Gut- oder Böse-sein in die Motive hinein und betrachtet die Thaten an sich als moralisch zweideutig. Man geht weiter und giebt das Prädicat gut oder böse nicht mehr dem einzelnen Motive, sondern dem ganzen Wesen eines Menschen, aus dem das Motiv, wie die Pflanze aus dem Erdreich, herauswächst. So macht man der Reihe nach den Menschen für seine Wirkungen, dann für seine Handlungen, dann für seine Motive und endlich für sein Wesen verantwortlich. Nun entdeckt man schliesslich, dass auch dieses Wesen nicht verantwortlich sein kann, insofern es ganz und gar nothwendige Folge ist und aus den Elementen und Einflüssen vergangener und gegenwärtiger Dinge concrescirt: also dass der Mensch für Nichts verantwortlich zu machen ist, weder für sein Wesen, noch seine Motive, noch seine Handlungen, noch seine Wirkungen. Damit ist man zur Erkenntniss gelangt, dass die Geschichte der moralischen Empfindungen die Geschichte eines Irrthums, des Irrthums von der Verantwortlichkeit ist: als welcher auf dem Irrthum von der Freiheit des Willens ruht. -Schopenhauer schloss dagegen so: weil gewisse Handlungen Unmuth ("Schuldbewusstsein") nach sich ziehen, so muss es eine Verantwortlichkeit geben; denn zu diesem Unmuth wäre kein Grund vorhanden, wenn nicht nur alles Handeln des Menschen mit Nothwendigkeit verliefe - wie es thatsächlich, und auch nach der Einsicht dieses Philosophen, verläuft -, sondern der Mensch selber mit der selben Nothwendigkeit sein ganzes Wesen erlangte, - was Schopenhauer leugnet. Aus der Thatsache jenes Unmuthes glaubt Schopenhauer eine Freiheit beweisen zu können, welche der Mensch irgendwie gehabt haben müsse, zwar nicht in Bezug auf die Handlungen, aber in Bezug auf das Wesen: Freiheit also, so oder so zu sein, nicht so oder so zu handeln. Aus dem esse, der Sphäre der Freiheit und Verantwortlichkeit, folgt nach seiner Meinung das operari, die Sphäre der strengen Causalität, Nothwendigkeit und Unverantwortlichkeit. Jener Unmuth beziehe sich zwar scheinbar auf das operari - insofern sei er irrthümlich -, in Wahrheit aber auf das esse, welches die That eines freien Willens, die Grundursache der Existenz eines Individuums, sei; der Mensch werde Das, was er werden wolle, sein Wollen sei früher, als seine Existenz. - Hier wird der Fehlschluss gemacht, dass aus der Thatsache des Unmuthes die Berechtigung, die vernünftige Zulässigkeit dieses Unmuthes geschlossen wird; und von jenem Fehlschluss aus kommt Schopenhauer zu seiner phantastischen Consequenz der sogenannten intelligibelen Freiheit. Aber der Unmuth nach der That braucht gar nicht vernünftig zu sein: ja er ist es gewiss nicht, denn er ruht auf der irrthümlichen Voraussetzung, dass die That eben nicht nothwendig hätte erfolgen müssen. Also: weil sich der Mensch für frei hält, nicht aber weil er frei ist, empfindet er Reue und Gewissensbisse. - Ueberdiess ist dieser Unmuth Etwas, das man sich abgewöhnen kann, bei vielen Menschen ist er in Bezug auf Handlungen gar nicht vorhanden, bei welchen viele andere Menschen ihn empfinden. Er ist eine sehr wandelbare, an die Entwickelung der Sitte und Cultur geknüpfte Sache und vielleicht nur in einer verhältnissmässig kurzen Zeit der Weltgeschichte vorhanden. -Niemand ist für seine Thaten verantwortlich, Niemand für sein Wesen; richten ist soviel als ungerecht sein. Diess gilt auch, wenn das Individuum über sich selbst richtet. Der Satz ist so hell wie Sonnenlicht, und doch geht hier jedermann lieber in den Schatten und die Unwahrheit zurück: aus Furcht vor den Folgen.

The Fable of Discretionary Freedom.—The history of the feelings, on the basis of which we make everyone responsible, hence, the so-called moral feelings, is traceable in the following leading phases. At first single actions are termed good or bad without any reference to their motive, but solely because of the utilitarian or prejudicial consequences they have for the community. In time, however, the origin of these designations is forgotten [but] it is imagined[75] that action in itself, without reference to its consequences, contains the property "good" or "bad": with the same error according to which language designates the stone itself as hard[ness] the tree itself as green[ness]—for the reason, therefore, that what is a consequence is comprehended as a cause. Accordingly, the good[ness] or bad[ness] is incorporated into the motive and [any] deed by itself is regarded as morally ambiguous. A step further is taken, and the predication good or bad is no longer made of the particular motives but of the entire nature of a man, out of which motive grows as grow the plants out of the soil. Thus man is successively made responsible for his [particular] acts, then for his [course of] conduct, then for his motives and finally for his nature. Now, at last, is it discovered that this nature, even, cannot be responsible, inasmuch as it is only and wholly a necessary consequence and is synthesised out of the elements and influence of past and present things: therefore, that man is to be made responsible for nothing, neither for his nature, nor his motives, nor his [course of] conduct nor his [particular] acts. By this [process] is gained the knowledge that the history of moral estimates is the history of error, of the error of responsibility: as is whatever rests upon the error of the freedom of the will. Schopenhauer[76] concluded just the other way, thus: since certain actions bring depression ("consciousness of guilt") in their train, there must, then, exist responsibility, for there would be no basis for this depression at hand if all man's affairs did not follow their course of necessity—as they do, indeed, according to the opinion of this philosopher, follow their course—but man himself, subject to the same necessity, would be just the man that he is—which Schopenhauer denies. From the fact of such depression Schopenhauer believes himself able to prove a freedom which man in some way must have had, not indeed in regard to his actions but in regard to his nature: freedom, therefore, to be thus and so, not to act thus and so. Out of the esse, the sphere of freedom and responsibility, follows, according to his opinion, the operari, the spheres of invariable causation, necessity and irresponsibility. This depression, indeed, is due apparently to the operari—in so far as it be delusive—but in truth to whatever esse be the deed of a free will, the basic cause of the existence of an individual: [in order to] let man become whatever he wills to become, his [to] will (Wollen) must precede his existence.—Here, apart from the absurdity of the statement just made, there is drawn the wrong inference that the fact of the depression explains its character, the rational[77] admissibility of it: from such a wrong inference does Schopenhauer first come to his fantastic consequent of the so called discretionary freedom (intelligibeln Freiheit). (For the origin of this fabulous entity Plato and Kant are equally responsible). But depression after the act does not need to be rational: indeed, it is certainly not so at all, for it rests upon the erroneous assumption that the act need not necessarily have come to pass. Therefore: only because man deems himself free, but not because he is free, does he experience remorse and the stings of conscience.—Moreover, this depression is something that can be grown out of; in many men it is not present at all as a consequence of acts which inspire it in many other men. It is a very varying thing and one closely connected with the development of custom and civilization, and perhaps manifest only during a relatively brief period of the world's history.—No one is responsible for his acts, no one for his nature; to judge is tantamount to being unjust. This applies as well when the individual judges himself. The proposition is as clear as sunlight, and yet here everyone prefers to go back to darkness and untruth: for fear of the consequences.

40.

Das Ueber-Thier. - Die Bestie in uns will belogen werden; Moral ist Nothlüge, damit wir von ihr nicht zerrissen werden. Ohne die Irrthümer, welche in den Annahmen der Moral liegen, wäre der Mensch Thier geblieben. So aber hat er sich als etwas Höheres genommen und sich strengere Gesetze auferlegt. Er hat desshalb einen Hass gegen die der Thierheit näher gebliebenen Stufen: woraus die ehemalige Missachtung des Sclaven, als eines Nicht-Menschen, als einer Sache zu erklären ist.

Above Animal.—The beast in us must be[78] wheedled: ethic is necessary, that we may not be torn to pieces. Without the errors involved in the assumptions of ethics, man would have remained an animal. Thus has he taken himself as something higher and imposed rigid laws upon himself. He feels hatred, consequently, for states approximating the animal: whence the former contempt for the slave as a not-yet-man, as a thing, is to be explained.

41.

Der unveränderliche Charakter. - Dass der Charakter unveränderlich sei, ist nicht im strengen Sinne wahr; vielmehr heisst dieser beliebte Satz nur so viel, dass während der kurzen Lebensdauer eines Menschen die einwirkenden Motive gewöhnlich nicht tief genug ritzen können, um die aufgeprägten Schriftzüge vieler Jahrtausende zu zerstören. Dächte man sich aber einen Menschen von achtzigtausend Jahren, so hätte man an ihm sogar einen absolut veränderlichen Charakter: so dass eine Fülle verschiedener Individuen sich nach und nach aus ihm entwickelte. Die Kürze des menschlichen Lebens verleitet zu manchen irrthümlichen Behauptungen über die Eigenschaften des Menschen.

Unalterable Character.—That character is unalterable is not, in the strict sense, true; rather is this favorite proposition valid only to the extent that during the brief life period of a man the potent new motives can not, usually, press down hard enough to obliterate the lines imprinted by ages. Could we conceive of a man eighty thousand years old, we should have in him an absolutely alterable character; so that the maturities of successive, varying individuals would develop in him. The shortness of human life leads to many erroneous assertions concerning the qualities of man.

42.

Die Ordnung der Güter und die Moral. - Die einmal angenommene Rangordnung der Güter, je nachdem ein niedriger, höherer, höchster Egoismus das Eine oder das Andere will, entscheidet jetzt über das Moralisch-sein oder Unmoralisch-sein. Ein niedriges Gut (zum Beispiel Sinnengenuss) einem höher geschätzten (zum Beispiel Gesundheit) vorziehen, gilt als unmoralisch, ebenso Wohlleben der Freiheit vorziehen. Die Rangordnung der Güter ist aber keine zu allen Zeiten feste und gleiche; wenn jemand Rache der Gerechtigkeit vorzieht, so ist er nach dem Maassstabe einer früheren Cultur moralisch, nach dem der jetzigen unmoralisch. "Unmoralisch" bezeichnet also, dass Einer die höheren, feineren, geistigeren Motive, welche die jeweilen neue Cultur hinzugebracht hat, noch nicht oder noch nicht stark genug empfindet: es bezeichnet einen Zurückgebliebenen, aber immer nur dem Gradunterschied nach. - Die Rangordnung der Güter selber wird nicht nach moralischen Gesichtspuncten auf- und umgestellt; wohl aber wird nach ihrer jedesmaligen Festsetzung darüber entschieden, ob eine Handlung moralisch oder unmoralisch sei.

Classification of Enjoyments and Ethic.—The once accepted comparative classification[79] of enjoyments, according to which an inferior, higher, highest egoism may crave one or another enjoyment, now decides as to ethical status or unethical status. A lower enjoyment (for example, sensual pleasure) preferred to a more highly esteemed one (for example, health) rates as unethical, as does welfare preferred to freedom. The comparative classification of enjoyments is not, however, alike or the same at all periods; when anyone demands satisfaction of the law, he is, from the point of view of an earlier civilization, moral, from that of the present, non-moral. "Unethical" indicates, therefore, that a man is not sufficiently sensible to the higher, finer impulses which the present civilization has brought with it, or is not sensible to them at all; it indicates backwardness, but only from the point of view of the contemporary degree of distinction.—The comparative classification of enjoyments itself is not determined according to absolute ethics; but after each new ethical adjustment, it is then decided whether conduct be ethical or the reverse.

43.

Grausame Menschen als zurückgeblieben. - Die Menschen, welche jetzt grausam sind, müssen uns als Stufen früherer Culturen gelten, welche übrig geblieben sind: das Gebirge der Menschheit zeigt hier einmal die tieferen Formationen, welche sonst versteckt liegen, offen. Es sind zurückgebliebene Menschen, deren Gehirn, durch alle möglichen Zufälle im Verlaufe der Vererbung, nicht so zart und vielseitig fortgebildet worden ist. Sie zeigen uns, was wir Alle waren, und machen uns erschrecken: aber sie selber sind so wenig verantwortlich, wie ein Stück Granit dafür, dass es Granit ist. In unserm Gehirne müssen sich auch Rinnen und Windungen finden, welche jener Gesinnung entsprechen, wie sich in der Form einzelner menschlicher Organe Erinnerungen an Fischzustände finden sollen. Aber diese Rinnen und Windungen sind nicht mehr das Bett, in welchem sich jetzt der Strom unserer Empfindung wälzt.

Inhuman Men as Survivals.—Men who are now inhuman must serve us as surviving specimens of earlier civilizations. The mountain height[80] of humanity here reveals its lower formations, which might otherwise remain hidden from view. There are surviving specimens of humanity whose brains through the vicissitudes of heredity, have escaped proper development. They show us what we all were and thus appal us; but they are as little responsible on this account as is a piece of granite for being granite. In our own brains there must be courses and windings corresponding to such characters, just as in the forms of some human organs there survive traces of fishhood. But these courses and windings are no longer the bed in which flows the stream of our feeling.

44.

Dankbarkeit und Rache. - Der Grund, wesshalb der Mächtige dankbar ist, ist dieser. Sein Wohlthäter hat sich durch seine Wohlthat an der Sphäre des Mächtigen gleichsam vergriffen und sich in sie eingedrängt: nun vergreift er sich zur Vergeltung wieder an der Sphäre des Wohlthäters durch den Act der Dankbarkeit. Es ist eine mildere Form der Rache. Ohne die Genugthuung der Dankbarkeit zu haben, würde der Mächtige sich unmächtig gezeigt haben und fürderhin dafür gelten. Desshalb stellt jede Gesellschaft der Guten, das heisst ursprünglich der Mächtigen, die Dankbarkeit unter die ersten Pflichten.

  • Swift hat den Satz hingeworfen, dass Menschen in dem selben Verhältniss dankbar sind, wie sie Rache hegen.

Gratitude and Revenge.—The reason the powerful man is grateful is this. His benefactor has, through his benefaction, invaded the domain of the powerful man and established himself on an equal footing: the powerful man in turn invades the domain of the benefactor and gets satisfaction through the act of gratitude. It is a mild form of revenge. By not obtaining the satisfaction of gratitude the powerful would have shown himself powerless and have ranked as such thenceforward. Hence every society of the good, that is to say, of the powerful originally,[81] places gratitude among the first of duties.—Swift has added the dictum that man is grateful in the same degree that he is revengeful.

45.

Doppelte Vorgeschichte von Gut und Böse. - Der Begriff gut und böse hat eine doppelte Vorgeschichte: nämlich einmal in der Seele der herrschenden Stämme und Kasten. Wer die Macht zu vergelten hat, Gutes mit Gutem, Böses mit Bösem, und auch wirklich Vergeltung übt, also dankbar und rachsüchtig ist, der wird gut genannt; wer unmächtig ist und nicht vergelten kann, gilt als schlecht. Man gehört als Guter zu den "Guten", einer Gemeinde, welche Gemeingefühl hat, weil alle Einzelnen durch den Sinn der Vergeltung mit einander verflochten sind. Man gehört als Schlechter zu den "Schlechten", zu einem Haufen unterworfener, ohnmächtiger Menschen, welche kein Gemeingefühl haben. Die Guten sind eine Kaste, die Schlechten eine Masse wie Staub. Gut und schlecht ist eine Zeit lang so viel wie vornehm und niedrig, Herr und Sclave. Dagegen sieht man den Feind nicht als böse an: er kann vergelten. Der Troer und der Grieche sind bei Homer beide gut. Nicht Der, welcher uns Schädliches zufügt, sondern Der, welcher verächtlich ist, gilt als schlecht. In der Gemeinde der Guten vererbt sich das Gute; es ist unmöglich, dass ein Schlechter aus so gutem Erdreiche hervorwachse. Thut trotzdem Einer der Guten Etwas, das der Guten unwürdig ist, so verfällt man auf Ausflüchte; man schiebt zum Beispiel einem Gott die Schuld zu, indem man sagt: er habe den Guten mit Verblendung und Wahnsinn geschlagen. - Sodann in der Seele der Unterdrückten, Machtlosen. Hier gilt jeder andere Mensch als feindlich, rücksichtslos, ausbeutend, grausam, listig, sei er vornehm oder niedrig; böse ist das Charakterwort für Mensch, ja für jedes lebende Wesen, welches man voraussetzt, zum Beispiel für einen Gott; menschlich, göttlich gilt so viel wie teuflisch, böse. Die Zeichen der Güte, Hülfebereitschaft, Mitleid, werden angstvoll als Tücke, Vorspiel eines schrecklichen Ausgangs, Betäubung und Ueberlistung aufgenommen, kurz als verfeinerte Bosheit. Bei einer solchen Gesinnung des Einzelnen kann kaum ein Gemeinwesen entstehen, höchstens die roheste Form desselben: so dass überall, wo diese Auffassung von gut und böse herrscht, der Untergang der Einzelnen, ihrer Stämme und Rassen nahe ist. - Unsere jetzige Sittlichkeit ist auf dem Boden der herrschenden Stämme und Kasten aufgewachsen.

Two-fold Historical Origin of Good and Evil.—The notion of good and bad has a two-fold historical origin: namely, first, in the spirit of ruling races and castes. Whoever has power to requite good with good and evil with evil and actually brings requital, (that is, is grateful and revengeful) acquires the name of being good; whoever is powerless and cannot requite is called bad. A man belongs, as a good individual, to the "good" of a community, who have a feeling in common, because all the individuals are allied with one another through the requiting sentiment. A man belongs, as a bad individual, to the "bad," to a mass of subjugated, powerless men who have no feeling in common. The good are a caste, the bad are a quantity, like dust. Good and bad is, for a considerable period, tantamount to noble and servile, master and slave. On the other hand an enemy is not looked upon as bad: he can requite. The Trojan and the Greek are in Homer both good. Not he, who does no harm, but he who is despised, is deemed bad. In the community of the good individuals [the quality of] good[ness] is inherited; it is impossible for[82] a bad individual to grow from such a rich soil. If, notwithstanding, one of the good individuals does something unworthy of his goodness, recourse is had to exorcism; thus the guilt is ascribed to a deity, the while it is declared that this deity bewitched the good man into madness and blindness.—Second, in the spirit of the subjugated, the powerless. Here every other man is, to the individual, hostile, inconsiderate, greedy, inhuman, avaricious, be he noble or servile; bad is the characteristic term for man, for every living being, indeed, that is recognized at all, even for a god: human, divine, these notions are tantamount to devilish, bad. Manifestations of goodness, sympathy, helpfulness, are regarded with anxiety as trickiness, preludes to an evil end, deception, subtlety, in short, as refined badness. With such a predisposition in individuals, a feeling in common can scarcely arise at all, at most only the rudest form of it: so that everywhere that this conception of good and evil prevails, the destruction of the individuals, their race and nation, is imminent.—Our existing morality has developed upon the foundation laid by ruling races and castes.

46.

Mitleiden stärker als Leiden. - Es giebt Fälle, wo das Mitleiden stärker ist, als das eigentliche Leiden. Wir empfinden es zum Beispiel schmerzlicher, wenn einer unserer Freunde sich etwas Schmähliches zu Schulden kommen lässt, als wenn wir selbst es thun. Einmal nämlich glauben wir mehr an die Reinheit seines Charakters, als er; sodann ist unsere Liebe zu ihm, wahrscheinlich eben dieses Glaubens wegen, stärker, als seine Liebe zu sich selbst. Wenn auch wirklich sein Egoismus mehr dabei leidet, als unser Egoismus, insofern er die übelen Folgen seines Vergehens stärker zu tragen hat, so wird das Unegoistische in uns - dieses Wort ist nie streng zu verstehen, sondern nur eine Erleichterung des Ausdrucks - doch stärker durch seine Schuld betroffen, als das Unegoistische in ihm.

Sympathy Greater than Suffering.—There are circumstances in which sympathy is stronger[83] than the suffering itself. We feel more pain, for instance, when one of our friends becomes guilty of a reprehensible action than if we had done the deed ourselves. We once, that is, had more faith in the purity of his character than he had himself. Hence our love for him, (apparently because of this very faith) is stronger than is his own love for himself. If, indeed, his egoism really suffers more, as a result, than our egoism, inasmuch as he must take the consequences of his fault to a greater extent than ourselves, nevertheless, the unegoistic—this word is not to be taken too strictly, but simply as a modified form of expression—in us is more affected by his guilt than the unegoistic in him.

47.

Hypochondrie.- Es giebt Menschen, welche aus Mitgefühl und Sorge für eine andere Person hypochondrisch werden; die dabei entstehende Art des Mitleidens ist nichts Anderes, als eine Krankheit. So giebt es auch eine christliche Hypochondrie, welche jene einsamen, religiös bewegten Leute befällt, die sich das Leiden und Sterben Christi fortwährend vor Augen stellen.

Hypochondria.—There are people who, from sympathy and anxiety for others become hypochondriacal. The resulting form of compassion is nothing else than sickness. So, also, is there a Christian hypochondria, from which those singular, religiously agitated people suffer who place always before their eyes the suffering and death of Christ.

48.

Oekonomie der Güte. - Die Güte und Liebe als die heilsamsten Kräuter und Kräfte im Verkehre der Menschen sind so kostbare Funde, dass man wohl wünschen möchte, es werde in der Verwendung dieser balsamischen Mittel so ökonomisch wie möglich verfahren: doch ist diess unmöglich. Die Oekonomie der Güte ist der Traum der verwegensten Utopisten.

Economy of Blessings.—The advantageous and the pleasing, as the healthiest growths and[84] powers in the intercourse of men, are such precious treasures that it is much to be wished the use made of these balsamic means were as economical as possible: but this is impossible. Economy in the use of blessings is the dream of the craziest of Utopians.

49.

Wohlwollen.- Unter die kleinen, aber zahllos häufigen und desshalb sehr wirkungsvollen Dinge, auf welche die Wissenschaft mehr Acht zu geben hat, als auf die grossen seltenen Dinge, ist auch das Wohlwollen zu rechnen; ich meine jene Aeusserungen freundlicher Gesinnung im Verkehr, jenes Lächeln des Auges, jene Händedrücke, jenes Behagen, von welchem für gewöhnlich fast alles menschliche Thun umsponnen ist. Jeder Lehrer, jeder Beamte bringt diese Zuthat zu dem, was für ihn Pflicht ist, hinzu; es ist die fortwährende Bethätigung der Menschlichkeit, gleichsam die Wellen ihres Lichtes, in denen Alles wächst; namentlich im engsten Kreise, innerhalb der Familie, grünt und blüht das Leben nur durch jenes Wohlwollen. Die Gutmüthigkeit, die Freundlichkeit, die Höflichkeit des Herzens sind immerquellende Ausflüsse des unegoistischen Triebes und haben viel mächtiger an der Cultur gebaut, als jene viel berühmteren Aeusserungen desselben, die man Mitleiden, Barmherzigkeit und Aufopferung nennt. Aber man pflegt sie geringzuschätzen, und in der That: es ist nicht gerade viel Unegoistisches daran. Die Summe dieser geringen Dosen ist trotzdem gewaltig, ihre gesammte Kraft gehört zu den stärksten Kräften. - Ebenso findet man viel mehr Glück in der Welt, als trübe Augen sehen: wenn man nämlich richtig rechnet, und nur alle jene Momente des Behagens, an welchen jeder Tag in jedem, auch dem bedrängtesten Menschenleben reich ist, nicht vergisst.

Well-Wishing.—Among the small, but infinitely plentiful and therefore very potent things to which science must pay more attention than to the great, uncommon things, well-wishing21 must be reckoned; I mean those manifestations of friendly disposition in intercourse, that laughter of the eye, every hand pressure, every courtesy from which, in general, every human act gets its quality. Every teacher, every functionary adds this element as a gratuity to whatever he does as a duty; it is the perpetual well spring of humanity, like the waves of light in which everything grows; thus, in the narrowest circles, within the family, life blooms and flowers only through this kind feeling. The cheerfulness, [85]friendliness and kindness of a heart are unfailing sources of unegoistic impulse and have made far more for civilization than those other more noised manifestations of it that are styled sympathy, benevolence and sacrifice. But it is customary to depreciate these little tokens of kindly feeling, and, indeed, there is not much of the unegoistic in them. The sum of these little doses is very great, nevertheless; their combined strength is of the greatest of strengths.—Thus, too, much more happiness is to be found in the world than gloomy eyes discover: that is, if the calculation be just, and all these pleasing moments in which every day, even the meanest human life, is rich, be not forgotten.

21 Wohl-wollen, kind feeling. It stands here for benevolence but not benevolence in the restricted sense of the word now prevailing.

50.

Mitleiden erregen wollen.- La Rochefoucauld trifft in der bemerkenswerthesten Stelle seines Selbst-Portraits (zuerst gedruckt 1658) gewiss das Rechte, wenn er alle Die, welche Vernunft haben, vor dem Mitleiden warnt, wenn er räth, dasselbe den Leuten aus dem Volke zu überlassen, die der Leidenschaften bedürfen (weil sie nicht durch Vernunft bestimmt werden), um so weit gebracht zu werden, dem Leidenden zu helfen und bei einem Unglück kräftig einzugreifen; während das Mitleiden, nach seinem (und Plato's) Urtheil, die Seele entkräfte. Freilich solle man Mitleiden bezeugen, aber sich hüten, es zu haben: denn die Unglücklichen seien nun einmal so dumm, dass bei ihnen das Bezeugen von Mitleid das grösste Gut von der Welt ausmache. - Vielleicht kann man noch stärker vor diesem Mitleid-haben warnen, wenn man jenes Bedürfniss der Unglücklichen nicht gerade als Dummheit und intellectuellen Mangel, als eine Art Geistesstörung fasst, welche das Unglück mit sich bringt (und so scheint es ja La Rochefoucauld zu fassen), sondern als etwas ganz Anderes und Bedenklicheres versteht. Vielmehr beobachte man Kinder, welche weinen und Schreien, damit sie bemitleidet werden, und desshalb den Augenblick abwarten, wo ihr Zustand in die Augen fallen kann; man lebe im Verkehr mit Kranken und Geistig-Gedrückten und frage sich, ob nicht das beredte Klagen und Wimmern, das Zur-Schau-tragen des Unglücks im Grunde das Ziel verfolgt, den Anwesenden weh zu thun: das Mitleiden, welches Jene dann äussern, ist insofern eine Tröstung für die Schwachen und Leidenden, als sie daran erkennen, doch wenigstens noch Eine Macht zu haben, trotz aller ihrer Schwäche: die Macht, wehe zu thun. Der Unglückliche gewinnt eine Art von Lust in diesem Gefühl der Ueberlegenheit, welches das Bezeugen des Mitleides ihm zum Bewusstsein bringt; seine Einbildung erhebt sich, er ist immer noch wichtig genug, um der Welt Schmerzen zu machen. Somit ist der Durst nach Mitleid ein Durst nach Selbstgenuss, und zwar auf Unkosten der Mitmenschen; es zeigt den Menschen in der ganzen Rücksichtslosigkeit seines eigensten lieben Selbst: nicht aber gerade in seiner "Dummheit", wie La Rochefoucauld meint. - Im Zwiegespräche der Gesellschaft werden Dreiviertel aller Fragen gestellt, aller Antworten gegeben, um dem Unterredner ein klein Wenig weh zu thun; desshalb dürsten viele Menschen so nach Gesellschaft: sie giebt ihnen das Gefühl ihrer Kraft. In solchen unzähligen, aber sehr kleinen Dosen, in welchen die Bosheit sich geltend macht, ist sie ein mächtiges Reizmittel des Lebens: ebenso wie das Wohlwollen, in gleicher Form durch die Menschenwelt hin verbreitet, das allezeit bereite Heilmittel ist. - Aber wird es viele Ehrliche geben, welche zugestehen, dass es Vergnügen macht, wehe zu thun? dass man sich nicht selten damit unterhält - und gut unterhält -, anderen Menschen wenigstens in Gedanken Kränkungen zuzufügen und die Schrotkörner der kleinen Bosheit nach ihnen zu schiessen? Die Meisten sind zu unehrlich und ein paar Menschen sind zu gut, um von diesem Pudendum Etwas zu wissen; diese mögen somit immerhin leugnen, dass Prosper Mérimée Recht habe, wenn er sagt: "Sachez aussi qu'il n'y a rien de plus commun que de faire le mal pour le plaisir de le faire."

The Desire to Inspire Compassion.—La Rochefoucauld, in the most notable part of his self portraiture (first printed 1658) reaches the vital spot of truth when he warns all those endowed with reason to be on their guard against compassion, when he advises that this sentiment be left to men of the masses who stand in need of the promptings of the emotions (since they are not guided by reason) to induce them to give aid to the suffering and to be of service in misfortune:[86] whereas compassion, in his (and Plato's) view, deprives the heart of strength. To be sure, sympathy should be manifested but men should take care not to feel it; for the unfortunate are rendered so dull that the manifestation of sympathy affords them the greatest happiness in the world.—Perhaps a more effectual warning against this compassion can be given if this need of the unfortunate be considered not simply as stupidity and intellectual weakness, not as a sort of distraction of the spirit entailed by misfortune itself (and thus, indeed, does La Rochefoucauld seem to view it) but as something quite different and more momentous. Let note be taken of children who cry and scream in order to be compassionated and who, therefore, await the moment when their condition will be observed; come into contact with the sick and the oppressed in spirit and try to ascertain if the wailing and sighing, the posturing and posing of misfortune do not have as end and aim the causing of pain to the beholder: the sympathy which each beholder manifests is a consolation to the weak and suffering only in as much as they are made to perceive that at least they have the power, notwithstanding all their weakness, to inflict pain. The unfortunate experiences a species of joy in the sense of superiority which the manifestation of sympathy entails; his imagination[87] is exalted; he is always strong enough, then, to cause the world pain. Thus is the thirst for sympathy a thirst for self enjoyment and at the expense of one's fellow creatures: it shows man in the whole ruthlessness of his own dear self: not in his mere "dullness" as La Rochefoucauld thinks.—In social conversation three fourths of all the questions are asked, and three fourths of all the replies are made in order to inflict some little pain; that is why so many people crave social intercourse: it gives them a sense of their power. In these countless but very small doses in which the quality of badness is administered it proves a potent stimulant of life: to the same extent that well wishing—(Wohl-wollen) distributed through the world in like manner, is one of the ever ready restoratives.—But will many honorable people be found to admit that there is any pleasure in administering pain? that entertainment—and rare entertainment—is not seldom found in causing others, at least in thought, some pain, and in raking them with the small shot of wickedness? The majority are too ignoble and a few are too good to know anything of this pudendum: the latter may, consequently, be prompt to deny that Prosper Mérimée is right when he says: "Know, also, that nothing is more common than to do wrong for the pleasure of doing it."

[88]

51.

Wie der Schein zum Sein wird. - Der Schauspieler kann zuletzt auch beim tiefsten Schmerz nicht aufhören, an den Eindruck seiner Person und den gesammten scenischen Effect zu denken, zum Beispiel selbst beim Begräbniss seines Kindes; er wird über seinen eignen Schmerz und dessen Aeusserungen weinen, als sein eigener Zuschauer. Der Heuchler, welcher immer ein und die selbe Rolle spielt, hört zuletzt auf, Heuchler zu sein; zum Beispiel Priester, welche als junge Männer gewöhnlich bewusst oder unbewusst Heuchler sind, werden zuletzt natürlich und sind dann wirklich, ohne alle Affectation, eben Priester; oder wenn es der Vater nicht so weit bringt, dann vielleicht der Sohn, der des Vaters Vorsprung benutzt, seine Gewöhnung erbt. Wenn Einer sehr lange und hartnäckig Etwas scheinen will, so wird es ihm zuletzt schwer, etwas Anderes zu sein. Der Beruf fast jedes Menschen, sogar des Künstlers, beginnt mit Heuchelei, mit einem Nachmachen von Aussen her, mit einem Copiren des Wirkungsvollen. Der, welcher immer die Maske freundlicher Mienen trägt, muss zuletzt eine Gewalt über wohlwollende Stimmungen bekommen, ohne welche der Ausdruck der Freundlichkeit nicht zu erzwingen ist, - und zuletzt wieder bekommen diese über ihn Gewalt, er ist wohlwollend.

How Appearance Becomes Reality.—The actor cannot, at last, refrain, even in moments of the deepest pain, from thinking of the effect produced by his deportment and by his surroundings—for example, even at the funeral of his own child: he will weep at his own sorrow and its manifestations as though he were his own audience. The hypocrite who always plays one and the same part, finally ceases to be a hypocrite; as in the case of priests who, when young men, are always, either consciously or unconsciously, hypocrites, and finally become naturally and then really, without affectation, mere priests: or if the father does not carry it to this extent, the son, who inherits his father's calling and gets the advantage of the paternal progress, does. When anyone, during a long period, and persistently, wishes to appear something, it will at last prove difficult for him to be anything else. The calling of almost every man, even of the artist, begins with hypocrisy, with an imitation of deportment, with a copying of the effective in manner. He who always wears the mask of a friendly man must at last gain a power over friendliness of disposition, without which the expression itself of friendliness is not to be gained—and finally friendliness of disposition gains the ascendancy over him—he is benevolent.

[89]

52.

Der Punct der Ehrlichkeit beim Betruge. - Bei allen grossen Betrügern ist ein Vorgang bemerkenswerth, dem sie ihre Macht verdanken. Im eigentlichen Acte des Betruges unter all den Vorbereitungen, dem Schauerlichen in Stimme, Ausdruck, Gebärden, inmitten der wirkungsvollen Scenerie, überkommt sie der Glaube an sich selbst: dieser ist es, der dann so wundergleich und bezwingend zu den Umgebenden spricht. Die Religionsstifter unterscheiden sich dadurch von jenen grossen Betrügern, dass sie aus diesem Zustande der Selbsttäuschung nicht herauskommen: oder sie haben ganz selten einmal jene helleren Momente, wo der Zweifel sie überwältigt; gewöhnlich trösten sie sich aber, diese helleren Momente dem bösen Widersacher zuschiebend. Selbstbetrug muss da sein, damit Diese und jene grossartig wirken. Denn die Menschen glauben an die Wahrheit dessen, was ersichtlich stark geglaubt wird.

The Point of Honor in Deception.—In all great deceivers one characteristic is prominent, to which they owe their power. In the very act of deception, amid all the accompaniments, the agitation in the voice, the expression, the bearing, in the crisis of the scene, there comes over them a belief in themselves; this it is that acts so effectively and irresistibly upon the beholders. Founders of religions differ from such great deceivers in that they never come out of this state of self deception, or else they have, very rarely, a few moments of enlightenment in which they are overcome by doubt; generally, however, they soothe themselves by ascribing such moments of enlightenment to the evil adversary. Self deception must exist that both classes of deceivers may attain far reaching results. For men believe in the truth of all that is manifestly believed with due implicitness by others.

53.

Angebliche Stufen der Wahrheit. - Einer der gewöhnlichen Fehlschlüsse ist der: weil Jemand wahr und aufrichtig gegen uns ist, so sagt er die Wahrheit. So glaubt das Kind an die Urtheile der Eltern, der Christ an die Behauptungen des Stifters der Kirche. Ebenso will man nicht zugeben, dass alles jenes, was die Menschen mit Opfern an Glück und Leben in früheren Jahrhunderten vertheidigt haben, Nichts als Irrthümer waren: vielleicht sagt man, es seien Stufen der Wahrheit gewesen. Aber im Grunde meint man, wenn Jemand ehrlich an Etwas geglaubt und für seinen Glauben gekämpft hat und gestorben ist, wäre es doch gar zu unbillig, wenn eigentlich nur ein Irrthum ihn beseelt habe. So ein Vorgang scheint der ewigen Gerechtigkeit zu widersprechen; desshalb decretirt das Herz empfindender Menschen immer wieder gegen ihren Kopf den Satz: zwischen moralischen Handlungen und intellectuellen Einsichten muss durchaus ein nothwendiges Band sein. Es ist leider anders; denn es giebt keine ewige Gerechtigkeit.

Presumed Degrees of Truth.—One of the most usual errors of deduction is: because someone truly and openly is against us, therefore he speaks the truth. Hence the child has faith in the judgments of its elders, the Christian in the[90] assertions of the founder of the church. So, too, it will not be admitted that all for which men sacrificed life and happiness in former centuries was nothing but delusion: perhaps it is alleged these things were degrees of truth. But what is really meant is that, if a person sincerely believes a thing and has fought and died for his faith, it would be too unjust if only delusion had inspired him. Such a state of affairs seems to contradict eternal justice. For that reason the heart of a sensitive man pronounces against his head the judgment: between moral conduct and intellectual insight there must always exist an inherent connection. It is, unfortunately, otherwise: for there is no eternal justice.

54.

Die Lüge. - Wesshalb sagen zu allermeist die Menschen im alltäglichen Leben die Wahrheit? - Gewiss nicht, weil ein Gott das Lügen verboten hat. Sondern erstens: weil es bequemer ist; denn die Lüge erfordert Erfindung, Verstellung und Gedächtniss. (Wesshalb Swift sagt: wer eine Lüge berichtet, merkt selten die schwere Last, die er übernimmt; er muss nämlich, um eine Lüge zu behaupten, zwanzig andere erfinden.) Sodann: weil es in schlichten Verhältnissen vortheilhaft ist, direct zu sagen: ich will diess, ich habe diess gethan, und dergleichen; also weil der Weg des Zwangs und der Autorität sicherer ist, als der der List. - Ist aber einmal ein Kind in verwickelten häuslichen Verhältnissen aufgezogen worden, so handhabt es ebenso natürlich die Lüge und sagt unwillkürlich immer Das, was seinem Interesse entspricht; ein Sinn für Wahrheit, ein Widerwille gegen die Lüge an sich ist ihm ganz fremd und unzugänglich, und so lügt es in aller Unschuld.

Falsehood.—Why do men, as a rule, speak the truth in the ordinary affairs of life? Certainly not for the reason that a god has forbidden lying. But because first: it is more convenient, as falsehood entails invention, make-believe and recollection (wherefore Swift says that whoever invents a lie seldom realises the heavy burden he takes up: he must, namely, for every lie that he tells, insert twenty more). Therefore, because in plain ordinary relations of life it is expedient to say without circumlocution: I want[91] this, I have done this, and the like; therefore, because the way of freedom and certainty is surer than that of ruse.—But if it happens that a child is brought up in sinister domestic circumstances, it will then indulge in falsehood as matter of course, and involuntarily say anything its own interests may prompt: an inclination for truth, an aversion to falsehood, is quite foreign and uncongenial to it, and hence it lies in all innocence.

55.

Des Glaubens wegen die Moral verdächtigen. - Keine Macht lässt sich behaupten, wenn lauter Heuchler sie vertreten; die katholische Kirche mag noch so viele "weltliche" Elemente besitzen, ihre Kraft beruht auf jenen auch jetzt noch zahlreichen priesterlichen Naturen, welche sich das Leben schwer und bedeutungstief machen, und deren Blick und abgehärmter Leib von Nachtwachen, Hungern, glühendem Gebete, vielleicht selbst von Geisselhieben redet; Diese erschüttern die Menschen und machen ihnen Angst: wie, wenn es nöthig wäre, so zu leben? - diess ist die schauderhafte Frage, welche ihr Anblick auf die Zunge legt. Indem sie diesen Zweifel verbreiten, gründen sie immer von Neuem wieder einen Pfeiler ihrer Macht; selbst die Freigesinnten wagen es nicht, dem derartig Selbstlosen mit hartem Wahrheitssinn zu widerstehen und zu sagen: "Betrogner du, betrüge nicht!" - Nur die Differenz der Einsichten trennt sie von ihm, durchaus keine Differenz der Güte oder Schlechtigkeit; aber was man nicht mag, pflegt man gewöhnlich auch ungerecht zu behandeln. So spricht man von der Schlauheit und der verruchten Kunst der Jesuiten, aber übersieht, welche Selbstüberwindung jeder einzelne Jesuit sich auferlegt und wie die erleichterte Lebenspraxis, welche die jesuitischen Lehrbücher predigen, durchaus nicht ihnen, sondern dem Laienstande zu Gute kommen soll. Ja man darf fragen, ob wir Aufgeklärten bei ganz gleicher Taktik und Organisation eben so gute Werkzeuge, ebenso bewundernswürdig durch Selbstbesiegung, Unermüdlichkeit, Hingebung sein würden.

Ethic Discredited for Faith's Sake.—No power can sustain itself when it is represented by mere humbugs: the Catholic Church may possess ever so many "worldly" sources of strength, but its true might is comprised in those still numberless priestly natures who make their lives stern and strenuous and whose looks and emaciated bodies are eloquent of night vigils, fasts, ardent prayer, perhaps even of whip lashes: these things make men tremble and cause them anxiety: what, if it be really imperative to live thus? This is the dreadful question which their aspect occasions. As they spread this doubt, they lay anew the prop of their power: even the free thinkers dare not oppose such disinterestedness with severe truth and cry: "Thou deceived one,[92] deceive not!"—Only the difference of standpoint separates them from him: no difference in goodness or badness. But things we cannot accomplish ourselves, we are apt to criticise unfairly. Thus we are told of the cunning and perverted acts of the Jesuits, but we overlook the self mastery that each Jesuit imposes upon himself and also the fact that the easy life which the Jesuit manuals advocate is for the benefit, not of the Jesuits but the laity. Indeed, it may be questioned whether we enlightened ones would become equally competent workers as the result of similar tactics and organization, and equally worthy of admiration as the result of self mastery, indefatigable industry and devotion.

56.

Sieg der Erkenntniss über das radicale Böse. - Es trägt Dem, der weise werden will, einen reichlichen Gewinn ein, eine Zeit lang einmal die Vorstellung vom gründlich bösen und verderbten Menschen gehabt zu haben: sie ist falsch, wie die entgegengesetzte; aber ganze Zeitstrecken hindurch besass sie die Herrschaft und ihre Wurzeln haben sich bis in uns und unsere Welt hinein verästet. Um uns zu begreifen, müssen wir sie begreifen; um aber dann höher zu steigen, müssen wir über sie hinwegsteigen. Wir erkennen dann, dass es keine Sünden im metaphysischen Sinne giebt; aber, im gleichen Sinne, auch keine Tugenden; dass dieses ganze Bereich sittlicher Vorstellungen fortwährend im Schwanken ist, dass es höhere und tiefere Begriffe von gut und böse, sittlich und unsittlich giebt. Wer nicht viel mehr von den Dingen begehrt, als Erkenntniss derselben, kommt leicht mit seiner Seele zur Ruhe und wird höchstens aus Unwissenheit, aber schwerlich aus Begehrlichkeit fehlgreifen (oder sündigen, wie die Welt es heisst). Er wird die Begierden nicht mehr verketzern und ausrotten wollen; aber sein einziges ihn völlig beherrschendes Ziel, zu aller Zeit so gut wie möglich zu erkennen, wird ihn kühl machen und alle Wildheit in seiner Anlage besänftigen. Ueberdiess ist er einer Menge quälender Vorstellungen losgeworden, er empfindet Nichts mehr bei dem Worte Höllenstrafen, Sündhaftigkeit, Unfähigkeit zum Guten: er erkennt darin nur die verschwebenden Schattenbilder falscher Welt- und Lebensbetrachtungen.

Victory of Knowledge over Radical Evil.—It proves a material gain to him who would attain knowledge to have had during a considerable period the idea that mankind is a radically bad and perverted thing: it is a false idea, as is its opposite, but it long held sway and its roots have reached down even to ourselves and our present world. In order to understand ourselves we must understand it; but in order to attain a loftier height we must step above it. We then perceive that there is no such thing as sin in the[93] metaphysical sense: but also, in the same sense, no such thing as virtue; that this whole domain of ethical notions is one of constant variation; that there are higher and deeper conceptions of good and evil, moral and immoral. Whoever desires no more of things than knowledge of them attains speedily to peace of mind and will at most err through lack of knowledge, but scarcely through eagerness for knowledge (or through sin, as the world calls it). He will not ask that eagerness for knowledge be interdicted and rooted out; but his single, all powerful ambition to know as thoroughly and as fully as possible, will soothe him and moderate all that is strenuous in his circumstances. Moreover, he is now rid of a number of disturbing notions; he is no longer beguiled by such words as hell-pain, sinfulness, unworthiness: he sees in them merely the flitting shadow pictures of false views of life and of the world.

57.

Moral als Selbstzertheilung des Menschen. - Ein guter Autor, der wirklich das Herz für seine Sache hat, wünscht, dass jemand komme und ihn selber dadurch vernichte, dass er dieselbe Sache deutlicher darstelle und die in ihr enthaltenen Fragen ohne Rest beantworte. Das liebende Mädchen wünscht, dass sie die hingebende Treue ihrer Liebe an der Untreue des Geliebten bewähren könne. Der Soldat wünscht, dass er für sein siegreiches Vaterland auf dem Schlachtfeld falle.- denn in dem Siege seines Vaterlandes siegt sein höchstes Wünschen mit. Die Mutter giebt dem Kinde, was sie sich selber entzieht, Schlaf, die beste Speise, unter Umständen ihre Gesundheit, ihr Vermögen. - Sind das Alles aber unegoistische Zustände? Sind diese Thaten der Moralität Wunder, weil sie, nach dem Ausdrucke Schopenhauer's, "unmöglich und doch wirklich" sind? Ist es nicht deutlich, dass in all diesen Fällen der Mensch Etwas von sich, einen Gedanken, ein Verlangen, ein Erzeugniss mehr liebt, als etwas Anderes von sich, dass er also sein Wesen zertheilt und dem einen Theil den anderen zum Opfer bringt? Ist es etwas wesentlich Verschiedenes, wenn ein Trotzkopf sagt: "ich will lieber über den Haufen geschossen werden, als diesem Menschen da einen Schritt aus dem Wege gehn?" - Die Neigung zu Etwas (Wunsch, Trieb, Verlangen) ist in allen genannten Fällen vorhanden; ihr nachzugeben, mit allen Folgen, ist jedenfalls nicht "unegoistisch". - In der Moral behandelt sich der Mensch nicht als individuum, sondern als dividuum.

Ethic as Man's Self-Analysis.—A good author, whose heart is really in his work, wishes that someone would arise and wholly refute him if only thereby his subject be wholly clarified and made plain. The maid in love wishes that she could attest the fidelity of her own passion[94] through the faithlessness of her beloved. The soldier wishes to sacrifice his life on the field of his fatherland's victory: for in the victory of his fatherland his highest end is attained. The mother gives her child what she deprives herself of—sleep, the best nourishment and, in certain circumstances, her health, her self.—But are all these acts unegoistic? Are these moral deeds miracles because they are, in Schopenhauer's phrase "impossible and yet accomplished"? Is it not evident that in all four cases man loves one part of himself, (a thought, a longing, an experience) more than he loves another part of himself? that he thus analyses his being and sacrifices one part of it to another part? Is this essentially different from the behavior of the obstinate man who says "I would rather be shot than go a step out of my way for this fellow"?—Preference for something (wish, impulse, longing) is present in all four instances: to yield to it, with all its consequences, is not "unegoistic."—In the domain of the ethical man conducts himself not as individuum but as dividuum.

58.

Was man versprechen kann. - Man kann Handlungen versprechen, aber keine Empfindungen; denn diese sind unwillkürlich. Wer jemandem verspricht, ihn immer zu lieben oder immer zu hassen oder ihm immer treu zu sein, verspricht Etwas, das nicht in seiner Macht steht; wohl aber kann er solche Handlungen versprechen, welche zwar gewöhnlich die Folgen der Liebe, des Hasses, der Treue sind, aber auch aus anderen Motiven entspringen können: denn zu einer Handlung führen mehrere Wege und Motive. Das Versprechen, jemanden immer zu lieben, heisst also: so lange ich dich liebe, werde ich dir die Handlungen der Liebe erweisen; liebe ich dich nicht mehr, so wirst du doch die selben Handlungen, wenn auch aus anderen Motiven, immerfort von mir empfangen: so dass der Schein in den Köpfen der Mitmenschen bestehen bleibt, dass die Liebe unverändert und immer noch die selbe sei. - Man verspricht also die Andauer des Anscheines der Liebe, wenn man ohne Selbstverblendung jemandem immerwährende Liebe gelobt.

What Can be Promised.—Actions can be promised, but not feelings, for these are involuntary. Whoever promises somebody to love[95] him always, or to hate him always, or to be ever true to him, promises something that it is out of his power to bestow. But he really can promise such courses of conduct as are the ordinary accompaniments of love, of hate, of fidelity, but which may also have their source in motives quite different: for various ways and motives lead to the same conduct. The promise to love someone always, means, consequently: as long as I love you, I will manifest the deportment of love; but if I cease to love you my deportment, although from some other motive, will be just the same, so that to the people about us it will seem as if my love remained unchanged.—Hence it is the continuance of the deportment of love that is promised in every instance in which eternal love (provided no element of self deception be involved) is sworn.

59.

Intellect und Moral. - Man muss ein gutes Gedächtniss haben, um gegebene Versprechen halten zu können. Man muss eine starke Kraft der Einbildung haben, um Mitleid haben zu können. So eng ist die Moral an die Güte des Intellects gebunden.

Intellect and Ethic.—One must have a good memory to be able to keep the promises one makes. One must have a strong imagination in order to feel sympathy. So closely is ethics connected with intellectual capacity.

60.

Sich rächen wollen und -sich rächen. -Einen Rachegedanken haben und ausführen heisst einen heftigen Fieberanfall bekommen, der aber vorübergeht: einen Rachegedanken aber haben, ohne Kraft und Muth, ihn auszuführen, heisst ein chronisches Leiden, eine Vergiftung an Leib und Seele mit sich herumtragen. Die Moral, welche nur auf die Absichten sieht, taxirt beide Fälle gleich; für gewöhnlich taxirt man den ersten Fall als den schlimmeren (wegen der bösen Folgen, welche die That der Rache vielleicht nach sich zieht). Beide Schätzungen sind kurzsichtig.

Desire for Vengeance and Vengeance Itself.—To meditate revenge and attain it is tantamount[96] to an attack of fever, that passes away: but to meditate revenge without possessing the strength or courage to attain it is tantamount to suffering from a chronic malady, or poisoning of body and soul. Ethics, which takes only the motive into account, rates both cases alike: people generally estimate the first case as the worst (because of the consequences which the deed of vengeance may entail). Both views are short sighted.

61.

Warten-können. - Das Warten-können ist so schwer, dass die grössten Dichter es nicht verschmäht haben, das Nicht-warten-können zum Motiv ihrer Dichtungen zu machen. So Shakespeare im Othello, Sophokles im Ajax: dessen Selbstmord ihm, wenn er nur einen Tag noch seine Empfindung hätte abkühlen lassen, nicht mehr nöthig geschienen hätte, wie der Orakelspruch andeutet; wahrscheinlich würde er den schrecklichen Einflüsterungen der verletzten Eitelkeit ein Schnippchen geschlagen und zu sich gesprochen haben - wer hat denn nicht schon, in meinem Falle, ein Schaf für einen Helden angesehen? ist es denn so etwas Ungeheures? Im Gegentheil, es ist nur etwas allgemein Menschliches: Ajax durfte sich dergestalt Trost zusprechen. Die Leidenschaft will nicht warten; das Tragische im Leben grosser Männer liegt häufig nicht in ihrem Conflicte mit der Zeit und der Niedrigkeit ihrer Mitmenschen, sondern in ihrer Unfähigkeit, ein Jahr, zwei Jahre ihr Werk zu verschieben; sie können nicht warten. - Bei allen Duellen haben die zurathenden Freunde das Eine festzustellen, ob die betheiligten Personen noch warten können: ist diess nicht der Fall, so ist ein Duell vernünftig, insofern Jeder von Beiden sich sagt: "entweder lebe ich weiter, dann muss jener augenblicklich sterben, oder umgekehrt." Warten hiesse in solchem Falle an jener furchtbaren Marter der verletzten Ehre angesichts ihres Verletzers noch länger leiden; und diess kann eben mehr Leiden sein, als das Leben überhaupt werth ist.

Ability to Wait.—Ability to wait is so hard to acquire that great poets have not disdained to make inability to wait the central motive of their poems. So Shakespeare in Othello, Sophocles in Ajax, whose suicide would not have seemed to him so imperative had he only been able to cool his ardor for a day, as the oracle foreboded: apparently he would then have repulsed somewhat the fearful whispers of distracted thought and have said to himself: Who has not already, in my situation, mistaken a sheep for a hero? is it so extraordinary a thing? On the contrary it is something universally human: Ajax should thus have soothed himself. Passion will not wait: the tragic element in the lives of great men does not generally consist in their[97] conflict with time and the inferiority of their fellowmen but in their inability to put off their work a year or two: they cannot wait.—In all duels, the friends who advise have but to ascertain if the principals can wait: if this be not possible, a duel is rational inasmuch as each of the combatants may say: "either I continue to live and the other dies instantly, or vice versa." To wait in such circumstances would be equivalent to the frightful martyrdom of enduring dishonor in the presence of him responsible for the dishonor: and this can easily cost more anguish than life is worth.

62.

Schwelgerei der Rache. -Grobe Menschen, welche sich beleidigt fühlen, pflegen den Grad der Beleidigung so hoch als möglich zu nehmen und erzählen die Ursache mit stark übertreibenden Worten, um nur in dem einmal erweckten Hass- und Rachegefühl sich recht ausschwelgen zu können.

Glutting Revenge.—Coarse men, who feel a sense of injury, are in the habit of rating the extent of their injury as high as possible and of stating the occasion of it in greatly exaggerated language, in order to be able to feast themselves on the sentiments of hatred and revenge thus aroused.

63.

Werth der Verkleinerung. - Nicht wenige, vielleicht die allermeisten Menschen haben, um ihre Selbstachtung und eine gewisse Tüchtigkeit im Handeln bei sich aufrecht zu erhalten, durchaus nöthig, alle ihnen bekannten Menschen in ihrer Vorstellung herabzusetzen und zu verkleinern. Da aber die geringen Naturen in der Ueberzahl sind und es sehr viel daran liegt, ob sie jene Tüchtigkeit haben oder verlieren, so -

Value of Disparagement.—Not a few, perhaps the majority of men, find it necessary, in order to retain their self esteem and a certain[98] uprightness in conduct, to mentally disparage and belittle all the people they know. But as the inferior natures are in the majority and as a great deal depends upon whether they retain or lose this uprightness, so—

64.

Der Auf brausende. - Vor Einem, der gegen uns aufbraust, soll man sich in Acht nehmen, wie vor Einem, der uns einmal nach dem Leben getrachtet hat: denn dass wir noch leben, das liegt an der Abwesenheit der Macht zu tödten; genügten Blicke, so wäre es längst um uns geschehen. Es ist ein Stück roher Cultur, durch Sichtbarwerdenlassen der physischen Wildheit, durch Furchterregen Jemanden zum Schweigen zu bringen. - Ebenso ist jener kalte Blick, welchen Vornehme gegen ihre Bedienten haben, ein Ueberrest jener kastenmässigen Abgränzungen zwischen Mensch und Mensch, ein Stück rohen Alterthums; die Frauen, die Bewahrerinnen des Alten, haben auch dieses Survival treuer bewahrt.

The Man in a Rage.—We should be on our guard against the man who is enraged against us, as against one who has attempted our life, for the fact that we still live consists solely in the inability to kill: were looks sufficient, it would have been all up with us long since. To reduce anyone to silence by physical manifestations of savagery or by a terrorizing process is a relic of under civilization. So, too, that cold look which great personages cast upon their servitors is a remnant of the caste distinction between man and man; a specimen of rude antiquity: women, the conservers of the old, have maintained this survival, too, more perfectly than men.

65.

Wohin die Ehrlichkeit führen kann. -Jemand hatte die üble Angewohnheit, sich über die Motive, aus denen er handelte und die so gut und so schlecht waren wie die Motive aller Menschen, gelegentlich ganz ehrlich auszusprechen. Er erregte erst Anstoss, dann Verdacht, wurde allmählich geradezu verfehmt und in die Acht der Gesellschaft erklärt, bis endlich die Justiz sich eines so verworfenen Wesens erinnerte, bei Gelegenheiten, wo sie sonst kein Auge hatte, oder dasselbe zudrückte. Der Mangel an Schweigsamkeit über das allgemeine Geheimniss und der unverantwortliche Hang, zu sehen, was Keiner sehen will - sich selber - brachten ihn zu Gefängniss und frühzeitigem Tod.

Whither Honesty May Lead.—Someone once had the bad habit of expressing himself[99] upon occasion, and with perfect honesty, on the subject of the motives of his conduct, which were as good or as bad as the motives of all men. He aroused first disfavor, then suspicion, became gradually of ill repute and was pronounced a person of whom society should beware, until at last the law took note of such a perverted being for reasons which usually have no weight with it or to which it closes its eyes. Lack of taciturnity concerning what is universally held secret, and an irresponsible predisposition to see what no one wants to see—oneself—brought him to prison and to early death.

66.

Sträflich, nie gestraft. - Unser Verbrechen gegen Verbrecher besteht darin, dass wir sie wie Schufte behandeln.

Punishable, not Punished.—Our crime against criminals consists in the fact that we treat them as rascals.

67.

Sancta simplicitas der Tugend. - Jede Tugend hat Vorrechte: zum
Beispiel diess, zu dem Scheiterhaufen eines Verurtheilten ihr eigenes
Bündchen Holz zu liefern.

Sancta simplicitas of Virtue.—Every virtue has its privilege: for example, that of contributing its own little bundle of wood to the funeral pyre of one condemned.

[100]

68.

Moralität und Erfolg. - Nicht nur die Zuschauer einer That bemessen häufig das Moralische oder Unmoralische an derselben nach dem Erfolge: nein, der Thäter selbst thut diess. Denn die Motive und Absichten sind selten deutlich und einfach genug, und mitunter scheint selbst das Gedächtniss durch den Erfolg der That getrübt, so dass man seiner That selber falsche Motive unterschiebt oder die unwesentlichen Motive als wesentliche behandelt. Der Erfolg giebt oft einer That den vollen ehrlichen Glanz des guten Gewissens, ein Misserfolg legt den Schatten von Gewissensbissen über die achtungswürdigste Handlung. Daraus ergiebt sich die bekannte Praxis des Politikers, welcher denkt: "gebt mir nur den Erfolg: mit ihm habe ich auch alle ehrlichen Seelen auf meine Seite gebracht - und mich vor mir selber ehrlich gemacht." - Auf ähnliche Weise soll der Erfolg die bessere Begründung ersetzen. Noch jetzt meinen viele Gebildete, der Sieg des Christenthums über die griechische Philosophie sei ein Beweis für die grössere Wahrheit des ersteren, - obwohl in diesem Falle nur das Gröbere und Gewaltsamere über das Geistigere und Zarte gesiegt hat. Wie es mit der grösseren Wahrheit steht, ist daraus zu ersehen, dass die erwachenden Wissenschaften Punct um Punct an Epikur's Philosophie angeknüpft, das Christenthum aber Punct um Punct zurückgewiesen haben.

Morality and Consequence.—Not alone the beholders of an act generally estimate the ethical or unethical element in it by the result: no, the one who performed the act does the same. For the motives and the intentions are seldom sufficiently apparent, and amid them the memory itself seems to become clouded by the results of the act, so that a man often ascribes the wrong motives to his acts or regards the remote motives as the direct ones. Success often imparts to an action all the brilliance and honor of good intention, while failure throws the shadow of conscience over the most estimable deeds. Hence arises the familiar maxim of the politician: "Give me only success: with it I can win all the noble souls over to my side—and make myself noble even in my own eyes."—In like manner will success prove an excellent substitute for a better argument. To this very day many well educated men think the triumph of Christianity over Greek philosophy is a proof of the superior truth of the former—although in this case it was simply the coarser and more powerful that triumphed over the more delicate and intellectual. As regards superiority of truth, it is evident that because of it the reviving sciences have connected themselves, point for point, with the philosophy of[101] Epicurus, while Christianity has, point for point, recoiled from it.

69.

Liebe und Gerechtigkeit. - Warum überschätzt man die Liebe zu Ungunsten der Gerechtigkeit und sagt die schönsten Dinge von ihr, als ob sie ein viel höheres Wesen als jene sei? Ist sie denn nicht ersichtlich dümmer als jene? - Gewiss, aber gerade desshalb um so viel angenehmer für Alle. Sie ist dumm und besitzt ein reiches Füllhorn; aus ihm theilt sie ihre Gaben aus, an jedermann, auch wenn er sie nicht verdient, ja ihr nicht einmal dafür dankt. Sie ist unparteiisch wie der Regen, welcher, nach der Bibel und der Erfahrung, nicht nur den Ungerechten, sondern unter Umständen auch den Gerechten bis auf die Haut nass macht.

Love and Justice.—Why is love so highly prized at the expense of justice and why are such beautiful things spoken of the former as if it were a far higher entity than the latter? Is the former not palpably a far more stupid thing than the latter?—Certainly, and on that very account so much the more agreeable to everybody: it is blind and has a rich horn of plenty out of which it distributes its gifts to everyone, even when they are unmerited, even when no thanks are returned. It is impartial like the rain, which according to the bible and experience, wets not alone the unjust but, in certain circumstances, the just as well, and to their skins at that.

70.

Hinrichtung. - Wie kommt es, dass jede Hinrichtung uns mehr beleidigt, als ein Mord? Es ist die Kälte der Richter, die peinliche Vorbereitung, die Einsicht, dass hier ein Mensch als Mittel benutzt wird, um andere abzuschrecken. Denn die Schuld wird nicht bestraft, selbst wenn es eine gäbe: diese liegt in Erziehern, Eltern, Umgebungen, in uns, nicht im Mörder, - ich meine die veranlassenden Umstände.

Execution.—How comes it that every execution causes us more pain than a murder? It is the coolness of the executioner, the painful preparation, the perception that here a man is being used as an instrument for the intimidation of others. For the guilt is not punished even if there be any: this is ascribable to the teachers,[102] the parents, the environment, in ourselves, not in the murderer—I mean the predisposing circumstances.

71.

Die Hoffnung. - Pandora brachte das Fass mit den Uebeln und öffnete es. Es war das Geschenk der Götter an die Menschen, von Aussen ein schönes verführerisches Geschenk und "Glücksfass" zubenannt. Da flogen all die Uebel, lebendige beschwingte Wesen heraus: von da an schweifen sie nun herum und thun den Menschen Schaden bei Tag und Nacht. Ein einziges Uebel war noch nicht aus dem Fass herausgeschlüpft: da schlug Pandora nach Zeus' Willen den Deckel zu und so blieb es darin. Für immer hat der Mensch nun das Glücksfass im Hause und meint Wunder was für einen Schatz er in ihm habe; es steht ihm zu Diensten, er greift darnach: wenn es ihn gelüstet; denn er weiss nicht, dass jenes Fass, welches Pandora brachte, das Fass der Uebel war, und hält das zurückgebliebene Uebel für das grösste Glücksgut, - es ist die Hoffnung. - Zeus wollte nämlich, dass der Mensch, auch noch so sehr durch die anderen Uebel gequält, doch das Leben nicht wegwerfe, sondern fortfahre, sich immer von Neuem quälen zu lassen. Dazu giebt er dem Menschen die Hoffnung: sie ist in Wahrheit das übelste der Uebel, weil sie die Qual der Menschen verlängert.

Hope.—Pandora brought the box containing evils and opened it. It was the gift of the gods to men, a gift of most enticing appearance externally and called the "box of happiness." Thereupon all the evils, (living, moving things) flew out: from that time to the present they fly about and do ill to men by day and night. One evil only did not fly out of the box: Pandora shut the lid at the behest of Zeus and it remained inside. Now man has this box of happiness perpetually in the house and congratulates himself upon the treasure inside of it; it is at his service: he grasps it whenever he is so disposed, for he knows not that the box which Pandora brought was a box of evils. Hence he looks upon the one evil still remaining as the greatest source of happiness—it is hope.—Zeus intended that man, notwithstanding the evils oppressing him, should continue to live and not rid himself of life, but keep on making himself miserable. For this purpose he bestowed hope upon man: it is, in truth, the greatest of evils for it lengthens the ordeal of man.

[103]

72.

Grad der moralischen Erhitzbarkeit unbekannt. - Daran, dass man gewisse erschütternde Anblicke und Eindrücke gehabt oder nicht gehabt hat, zum Beispiel eines unrecht gerichteten, getödteten oder gemarterten Vaters, einer untreuen Frau, eines grausamen feindlichen Ueberfalls, hängt es ab, ob unsere Leidenschaften zur Glühhitze kommen und das ganze Leben lenken oder nicht. Keiner weiss, wozu ihn die Umstände, das Mitleid, die Entrüstung treiben können, er kennt den Grad seiner Erhitzbarkeit nicht. Erbärmliche kleine Verhältnisse machen erbärmlich; es ist gewöhnlich nicht die Qualität der Erlebnisse, sondern ihre Quantität, von welcher der niedere und höhere Mensch abhängt, im Guten und Bösen.

Degree of Moral Susceptibility Unknown.—The fact that one has or has not had certain profoundly moving impressions and insights into things—for example, an unjustly executed, slain or martyred father, a faithless wife, a shattering, serious accident,—is the factor upon which the excitation of our passions to white heat principally depends, as well as the course of our whole lives. No one knows to what lengths circumstances (sympathy, emotion) may lead him. He does not know the full extent of his own susceptibility. Wretched environment makes him wretched. It is as a rule not the quality of our experience but its quantity upon which depends the development of our superiority or inferiority, from the point of view of good and evil.

73.

Der Märtyrer wider Willen. - In einer Partei gab es einen Menschen, der zu ängstlich und feige war, um je seinen Kameraden zu widersprechen: man brauchte ihn zu jedem Dienst, man erlangte von ihm Alles, weil er sich vor der schlechten Meinung bei seinen Gesellen mehr als vor dem Tode fürchtete; es war eine erbärmliche schwache Seele. Sie erkannten diess und machten auf Grund der erwähnten Eigenschaften aus ihm einen Heros und zuletzt gar einen Märtyrer. Obwohl der feige Mensch innerlich immer Nein sagte, sprach er mit den Lippen immer ja, selbst noch auf dem Schaffot, als er für die Ansichten seiner Partei starb: neben ihm nämlich stand einer seiner alten Genossen, der ihn durch Wort und Blick so tyrannisirte, dass er wirklich auf die anständigste Weise den Tod erlitt und seitdem als Märtyrer und grosser Charakter gefeiert wird.

The Martyr Against His Will.—In a certain movement there was a man who was too cowardly and vacillating ever to contradict his comrades. He was made use of in each emergency, every sacrifice was demanded of him because he feared the disfavor of his comrades more than he feared death: he was a petty, abject spirit. They perceived this and upon the foundation of the qualities just mentioned they[104] elevated him to the altitude of a hero, and finally even of a martyr. Although the cowardly creature always inwardly said No, he always said Yes with his lips, even upon the scaffold, where he died for the tenets of his party: for beside him stood one of his old associates who so domineered him with look and word that he actually went to his death with the utmost fortitude and has ever since been celebrated as a martyr and exalted character.

74.

Alltags-Maassstab. - Man wird selten irren, wenn man extreme Handlungen auf Eitelkeit, mittelmässige auf Gewöhnung und kleinliche auf Furcht zurückführt.

General Standard.—One will rarely err if extreme actions be ascribed to vanity, ordinary actions to habit and mean actions to fear.

75.

Missverständniss über die Tugend. - Wer die Untugend in Verbindung mit der Lust kennen gelernt hat, wie Der, welcher eine genusssüchtige Jugend hinter sich hat, bildet sich ein, dass die Tugend mit der Unlust verbunden sein müsse. Wer dagegen von seinen Leidenschaften und Lastern sehr geplagt worden ist, ersehnt in der Tugend die Ruhe und das Glück der Seele. Daher ist es möglich, dass zwei Tugendhafte einander gar nicht verstehen.

Misunderstanding of Virtue.—Whoever has obtained his experience of vice in connection with pleasure as in the case of one with a youth of wild oats behind him, comes to the conclusion that virtue must be connected with self denial. Whoever, on the other hand, has been very much plagued by his passions and vices, longs to find in virtue the rest and peace of the soul. That is why it is possible for two virtuous people to misunderstand one another wholly.

[105]

76.

Der Asket. - Der Asket macht aus der Tugend eine Noth.

The Ascetic.—The ascetic makes out of virtue a slavery.

77.

Die Ehre von der Person auf die Sache übertragen. - Man ehrt allgemein die Handlungen der Liebe und Aufopferung zu Gunsten des Nächsten, wo sie sich auch immer zeigen. Dadurch vermehrt man die Schätzung der Dinge, welche in jener Art geliebt werden oder für welche man sich aufopfert: obwohl sie vielleicht an sich nicht viel werth sind. Ein tapferes Heer überzeugt von der Sache, für welche es kämpft.

Honor Transferred from Persons to Things.—Actions prompted by love or by the spirit of self sacrifice for others are universally honored wherever they are manifest. Hence is magnified the value set upon whatever things may be loved or whatever things conduce to self sacrifice: although in themselves they may be worth nothing much. A valiant army is evidence of the value of the thing it fights for.

78.

Ehrgeiz ein Surrogat des moralischen Gefühls. - Das moralische Gefühl darf in solchen Naturen nicht fehlen, welche keinen Ehrgeiz haben. Die Ehrgeizigen behelfen sich auch ohne dasselbe, mit fast gleichem Erfolge. - Desshalb werden Söhne aus bescheidenen, dem Ehrgeiz abgewandten Familien, wenn sie einmal das moralische Gefühl verlieren, gewöhnlich in schneller Steigerung zu vollkommenen Lumpen.

Ambition a Substitute for Moral Feeling.—Moral feeling should never become extinct in natures that are destitute of ambition. The ambitious can get along without moral feeling just as well as with it.—Hence the sons of retired, ambitionless families, generally become by a series of rapid gradations, when they lose moral feeling, the most absolute lunkheads.

79.

Eitelkeit bereichert. - Wie arm wäre der menschliche Geist ohne die Eitelkeit! So aber gleicht er einem wohlgefüllten und immer neu sich füllenden Waarenmagazin, welches Käufer jeder Art anlockt: Alles fast können sie finden, Alles haben, vorausgesetzt, dass sie die gültige Münzsorte (Bewunderung) mit sich bringen.

Vanity Enriches.—How poor the human mind would be without vanity! As it is, it resembles[106] a well stacked and ever renewed ware-emporium that attracts buyers of every class: they can find almost everything, have almost everything, provided they bring with them the right kind of money—admiration.

80.

Greis und Tod.- Abgesehen von den Forderungen, welche die Religion stellt, darf man wohl fragen: warum sollte es für einen alt gewordenen Mann, welcher die Abnahme seiner Kräfte spürt, rühmlicher sein, seine langsame Erschöpfung und Auflösung abzuwarten, als sich mit vollem Bewusstsein ein Ziel zu setzen? Die Selbsttödtung ist in diesem Falle eine ganz natürliche naheliegende Handlung, welche als ein Sieg der Vernunft billigerweise Ehrfurcht erwecken sollte: und auch erweckt hat, in jenen Zeiten als die Häupter der griechischen Philosophie und die wackersten römischen Patrioten durch Selbsttödtung zu sterben pflegten. Die Sucht dagegen, sich mit ängstlicher Berathung von Aerzten und peinlichster Lebensart von Tag zu Tage fortzufristen, ohne Kraft, dem eigentlichen Lebensziel noch näher zu kommen, ist viel weniger achtbar. - Die Religionen sind reich an Ausflüchten vor der Forderung der Selbsttödtung: dadurch schmeicheln sie sich bei Denen ein, welche in das Leben verliebt sind.

Senility and Death.—Apart from the demands made by religion, it may well be asked why it is more honorable in an aged man, who feels the decline of his powers, to await slow extinction than to fix a term to his existence himself? Suicide in such a case is a quite natural and due proceeding that ought to command respect as a triumph of reason: and did in fact command respect during the times of the masters of Greek philosophy and the bravest Roman patriots, who usually died by their own hand. Eagerness, on the other hand, to keep alive from day to day with the anxious counsel of physicians, without capacity to attain any nearer to one's ideal of life, is far less worthy of respect.—Religions are very rich in refuges from the mandate of suicide: hence they ingratiate themselves with those who cling to life.

81.

Irrthümer des Leidenden und des Thäters. - Wenn der Reiche dem Armen ein Besitzthum nimmt (zum Beispiel ein Fürst dem Plebejer die Geliebte), so entsteht in dem Armen ein Irrthum; er meint, jener müsse ganz verrucht sein, um ihm das Wenige, was er habe, zu nehmen. Aber jener empfindet den Werth eines einzelnen Besitzthums gar nicht so tief, weil er gewöhnt ist, viele zu haben: so kann er sich nicht in die Seele des Armen versetzen und thut lange nicht so sehr Unrecht, als dieser glaubt. Beide haben von einander eine falsche Vorstellung. Das Unrecht des Mächtigen, welches am meisten in der Geschichte empört, ist lange nicht so gross, wie es scheint. Schon die angeerbte Empfindung, ein höheres Wesen mit höheren Ansprüchen zu sein, macht ziemlich kalt und lässt das Gewissen ruhig: wir Alle sogar empfinden, wenn der Unterschied zwischen uns und einem andern Wesen sehr gross ist, gar Nichts mehr von Unrecht und tödten eine Mücke zum Beispiel ohne jeden Gewissensbiss. So ist es kein Zeichen von Schlechtigkeit bei Xerxes (den selbst alle Griechen als hervorragend edel schildern), wenn er dem Vater seinen Sohn nimmt und ihn zerstückeln lässt, weil dieser ein ängstliches, ominöses Misstrauen gegen den ganzen Heerzug geäussert hatte: der Einzelne wird in diesem Falle wie ein unangenehmes Insect beseitigt, er steht zu niedrig, um länger quälende Empfindungen bei einem Weltherrscher erregen zu dürfen. Ja, jeder Grausame ist nicht in dem Maasse grausam, als es der Misshandelte glaubt; die Vorstellung des Schmerzes ist nicht das Selbe wie das Leiden desselben. Ebenso steht es mit dem ungerechten Richter, mit dem Journalisten, welcher mit kleinen Unredlichkeiten die öffentliche Meinung irre führt. Ursache und Wirkung sind in allen diesen Fällen von ganz verschiedenen Empfindungs- und Gedankengruppen umgeben; während man unwillkürlich voraussetzt, dass Thäter und Leidender gleich denken und empfinden, und gemäss dieser Voraussetzung die Schuld des Einen nach dem Schmerz des Andern misst.

Delusions Regarding Victim and Regarding Evil Doer.—When the rich man takes a[107] possession away from the poor man (for example, a prince who deprives a plebeian of his beloved) there arises in the mind of the poor man a delusion: he thinks the rich man must be wholly perverted to take from him the little that he has. But the rich man appreciates the value of a single possession much less because he is accustomed to many possessions, so that he cannot put himself in the place of the poor man and does not act by any means as ill as the latter supposes. Both have a totally false idea of each other. The iniquities of the mighty which bulk most largely in history are not nearly so monstrous as they seem. The hereditary consciousness of being a superior being with superior environment renders one very callous and lulls the conscience to rest. We all feel, when the difference between ourselves and some other being is exceedingly great, that no element of injustice can be involved, and we kill a fly with no qualms of conscience whatever. So, too, it is no indication of wickedness in Xerxes (whom even the Greeks represent as exceptionally noble) that he deprived a father of his son and had him drawn and quartered because the latter had manifested a troublesome, ominous distrust of an entire expedition: the individual was in this case brushed aside as a pestiferous insect. He was too low and mean to justify continued sentiments of[108] compunction in the ruler of the world. Indeed no cruel man is ever as cruel, in the main, as his victim thinks. The idea of pain is never the same as the sensation. The rule is precisely analogous in the case of the unjust judge, and of the journalist who by means of devious rhetorical methods, leads public opinion astray. Cause and effect are in all these instances entwined with totally different series of feeling and thoughts, whereas it is unconsciously assumed that principal and victim feel and think exactly alike, and because of this assumption the guilt of the one is based upon the pain of the other.

82.

Haut der Seele. - Wie die Knochen, Fleischstücke, Eingeweide und
Blutgefässe mit einer Haut umschlossen sind, die den Anblick des
Menschen erträglich macht, so werden die Regungen und Leidenschaften
der Seele durch die Eitelkeit umhüllt: sie ist die Haut der Seele.

The Soul's Skin.—As the bones, flesh, entrails and blood vessels are enclosed by a skin that renders the aspect of men endurable, so the impulses and passions of the soul are enclosed by vanity: it is the skin of the soul.

83.

Schlaf der Tugend. - Wenn die Tugend geschlafen hat, wird sie frischer aufstehen.

Sleep of Virtue.—If virtue goes to sleep, it will be more vigorous when it awakes.

84.

Feinheit der Scham. - Die Menschen schämen sich nicht, etwas Schmutziges zu denken, aber wohl, wenn sie sich vorstellen, dass man ihnen diese schmutzigen Gedanken zutraue.

Subtlety of Shame.—Men are not ashamed of obscene thoughts, but they are ashamed when[109] they suspect that obscene thoughts are attributed to them.

85.

Bosheit ist selten. - Die meisten Menschen sind viel zu sehr mit sich beschäftigt, um boshaft zu sein.

Naughtiness Is Rare.—Most people are too much absorbed in themselves to be bad.

86.

Das Zünglein an der Wage. - Man lobt oder tadelt, je nachdem das Eine oder das Andere mehr Gelegenheit giebt, unsere Urtheilskraft leuchten zu lassen.

The Mite in the Balance.—We are praised or blamed, as the one or the other may be expedient, for displaying to advantage our power of discernment.

87.

Lucas 18,14 verbessert. - Wer sich selbst erniedrigt, will erhöhet werden.

Luke 18:14 Improved.—He that humbleth himself wisheth to be exalted.

88.

Verhinderung des Selbstmordes. - Es giebt ein Recht, wonach wir einem Menschen das Leben nehmen, aber keines, wonach wir ihm das Sterben nehmen: diess ist nur Grausamkeit.

Prevention of Suicide.—There is a justice according to which we may deprive a man of life, but none that permits us to deprive him of death: this is merely cruelty.

89.

Eitelkeit.- Uns liegt an der guten Meinung der Menschen, einmal weil sie uns nützlich ist, sodann weil wir ihnen Freude machen wollen (Kinder den Eltern, Schüler den Lehrern und wohlwollende Menschen überhaupt allen übrigen Menschen). Nur wo jemandem die gute Meinung der Menschen wichtig ist, abgesehen vom Vortheil oder von seinem Wunsche, Freude zu machen, reden wir von Eitelkeit. In diesem Falle will sich der Mensch selber eine Freude machen, aber auf Unkosten seiner Mitmenschen, indem er diese entweder zu einer falschen Meinung über sich verführt oder es gar auf einen Grad der "guten Meinung" absieht, wo diese allen Anderen peinlich werden muss (durch Erregung von Neid). Der Einzelne will gewöhnlich durch die Meinung Anderer die Meinung, die er von sich hat, beglaubigen und vor sich selber bekräftigen; aber die mächtige Gewöhnung an Autorität - eine Gewöhnung, die so alt als der Mensch ist - bringt Viele auch dazu, ihren eigenen Glauben an sich auf Autorität zu stützen, also erst aus der Hand Anderer anzunehmen: sie trauen der Urtheilskraft Anderer mehr, als der eigenen. - Das Interesse an sich selbst, der Wunsch, sich zu vergnügen, erreicht bei dem Eitelen eine solche Höhe, dass er die Anderen zu einer falschen, allzu hohen Taxation seiner selbst verführt und dann doch sich an die Autorität der Anderen hält: also den Irrthum herbeiführt und doch ihm Glauben schenkt. - Man muss sich also eingestehen, dass die eitelen Menschen nicht sowohl Anderen gefallen wollen, als sich selbst, und dass sie so weit gehen, ihren Vortheil dabei zu vernachlässigen; denn es liegt ihnen oft daran, ihre Mitmenschen ungünstig, feindlich, neidisch, also schädlich gegen sich stimmen, nur um die Freude an sich selber, den Selbstgenuss, zu haben.

Vanity.—We set store by the good opinion of men, first because it is of use to us and next[110] because we wish to give them pleasure (children their parents, pupils their teacher, and well disposed persons all others generally). Only when the good opinion of men is important to somebody, apart from personal advantage or the desire to give pleasure, do we speak of vanity. In this last case, a man wants to give himself pleasure, but at the expense of his fellow creatures, inasmuch as he inspires them with a false opinion of himself or else inspires "good opinion" in such a way that it is a source of pain to others (by arousing envy). The individual generally seeks, through the opinion of others, to attest and fortify the opinion he has of himself; but the potent influence of authority—an influence as old as man himself—leads many, also, to strengthen their own opinion of themselves by means of authority, that is, to borrow from others the expedient of relying more upon the judgment of their fellow men than upon their own.—Interest in oneself, the wish to please oneself attains, with the vain man, such proportions that he first misleads others into a false, unduly exalted estimate of himself and then relies upon the authority of others for his self estimate; he thus creates the delusion that he pins his faith to.—It must, however, be admitted that the vain man does not desire to please others so much as himself and he will often go so far,[111] on this account, as to overlook his own interests: for he often inspires his fellow creatures with malicious envy and renders them ill disposed in order that he may thus increase his own delight in himself.

90.

Gränze der Menschenliebe. - Jeder, welcher sich dafür erklärt hat, dass der Andere ein Dummkopf, ein schlechter Geselle sei, ärgert sich, wenn Jener schliesslich zeigt, dass er es nicht ist.

Limits of the Love of Mankind.—Every man who has declared that some other man is an ass or a scoundrel, gets angry when the other man conclusively shows that the assertion was erroneous.

91.

Moralité larmoyante. - Wie viel Vergnügen macht die Moralität! Man denke nur, was für ein Meer angenehmer Thränen schon bei Erzählungen edler, grossmüthiger Handlungen geflossen ist! - Dieser Reiz des Lebens würde schwinden, wenn der Glaube an die völlige Unverantwortlichkeit überhand nähme.

Weeping Morality.—How much delight morality occasions! Think of the ocean of pleasing tears that has flowed from the narration of noble, great-hearted deeds!—This charm of life would disappear if the belief in complete irresponsibility gained the upper hand.

92.

Ursprung der Gerechtigkeit. - Die Gerechtigkeit (Billigkeit) nimmt ihren Ursprung unter ungefähr gleich Mächtigen, wie diess Thukydides (in dem furchtbaren Gespräche der athenischen und melischen Gesandten) richtig begriffen hat; wo es keine deutlich erkennbare Uebergewalt giebt und ein Kampf zum erfolglosen, gegenseitigen Schädigen würde, da entsteht der Gedanke sich zu verständigen und über die beiderseitigen Ansprüche zu verhandeln: der Charakter des Tausches ist der anfängliche Charakter der Gerechtigkeit. Jeder stellt den Andern zufrieden, indem jeder bekommt, was er mehr schätzt als der Andere. Man giebt jedem, was er haben will als das nunmehr Seinige, und empfängt dagegen das Gewünschte. Gerechtigkeit ist also Vergeltung und Austausch unter der Voraussetzung einer ungefähr gleichen Machtstellung: so gehört ursprünglich die Rache in den Bereich der Gerechtigkeit, sie ist ein Austausch. Ebenso die Dankbarkeit. - Gerechtigkeit geht natürlich auf den Gesichtspunct einer einsichtigen Selbsterhaltung zurück, also auf den Egoismus jener Ueberlegung: "wozu sollte ich mich nutzlos schädigen und mein Ziel vielleicht doch nicht erreichen?" - Soviel vom Ursprung der Gerechtigkeit. Dadurch, dass die Menschen, ihrer intellectuellen Gewohnheit gemäss, den ursprünglichen Zweck sogenannter gerechter, billiger Handlungen vergessen haben und namentlich weil durch Jahrtausende hindurch die Kinder angelernt worden sind, solche Handlungen zu bewundern und nachzuahmen, ist allmählich der Anschein entstanden, als sei eine gerechte Handlung eine unegoistische: auf diesem Anschein aber beruht die hohe Schätzung derselben, welche überdiess, wie alle Schätzungen, fortwährend noch im Wachsen ist: denn etwas Hochgeschätztes wird mit Aufopferung erstrebt, nachgeahmt, vervielfältigt und wächst dadurch, dass der Werth der aufgewandten Mühe und Beeiferung von jedem Einzelnen noch zum Werthe des geschätzten Dinges hinzugeschlagen wird. - Wie wenig moralisch sähe die Welt ohne die Vergesslichkeit aus! Ein Dichter könnte sagen, dass Gott die Vergesslichkeit als Thürhüterin an die Tempelschwelle der Menschenwürde hingelagert habe.

Origin of Justice.—Justice (reasonableness) has its origin among approximate equals in power, as Thucydides (in the dreadful conferences of the Athenian and Melian envoys) has[112] rightly conceived. Thus, where there exists no demonstrable supremacy and a struggle leads but to mutual, useless damage, the reflection arises that an understanding would best be arrived at and some compromise entered into. The reciprocal nature is hence the first nature of justice. Each party makes the other content inasmuch as each receives what it prizes more highly than the other. Each surrenders to the other what the other wants and receives in return its own desire. Justice is therefore reprisal and exchange upon the basis of an approximate equality of power. Thus revenge pertains originally to the domain of justice as it is a sort of reciprocity. Equally so, gratitude.—Justice reverts naturally to the standpoint of self preservation, therefore to the egoism of this consideration: "why should I injure myself to no purpose and perhaps never attain my end?"—So much for the origin of justice. Only because men, through mental habits, have forgotten the original motive of so called just and rational acts, and also because for thousands of years children have been brought to admire and imitate such acts, have they gradually assumed the appearance of being unegotistical. Upon this appearance is founded the high estimate of them, which, moreover, like all estimates, is continually developing, for whatever is highly esteemed is striven for, imitated,[113] made the object of self sacrifice, while the merit of the pain and emulation thus expended is, by each individual, ascribed to the thing esteemed.—How slightly moral would the world appear without forgetfulness! A poet could say that God had posted forgetfulness as a sentinel at the portal of the temple of human merit!

93.

Vom Rechte des Schwächeren. - Wenn sich jemand unter Bedingungen einem Mächtigeren unterwirft, zum Beispiel eine belagerte Stadt, so ist die Gegenbedingung die, dass man sich vernichten, die Stadt verbrennen und so dem Mächtigen eine grosse Einbusse machen kann. Desshalb entsteht hier eine Art Gleichstellung, auf Grund welcher Rechte festgesetzt werden können. Der Feind hat seinen Vortheil an der Erhaltung. - Insofern giebt es auch Rechte zwischen Sclaven und Herren, das heisst genau in dem Maasse, in welchem der Besitz des Sclaven seinem Herrn nützlich und wichtig ist. Das Recht geht ursprünglich soweit, als Einer dem Andern werthvoll, wesentlich, unverlierbar, unbesiegbar und dergleichen erscheint. In dieser Hinsicht hat auch der Schwächere noch Rechte, aber geringere. Daher das berühmte unusquisque tantum juris habet, quantum potentia valet (oder genauer: quantum potentia valere creditur).

Concerning the Law of the Weaker.—Whenever any party, for instance, a besieged city, yields to a stronger party, under stipulated conditions, the counter stipulation is that there be a reduction to insignificance, a burning and destruction of the city and thus a great damage inflicted upon the stronger party. Thus arises a sort of equalization principle upon the basis of which a law can be established. The enemy has an advantage to gain by its maintenance.—To this extent there is also a law between slaves and masters, limited only by the extent to which the slave may be useful to his master. The law goes originally only so far as the one party may appear to the other potent, invincible, stable, and the like. To such an extent, then, the weaker has rights, but very limited ones. Hence the famous dictum that each has as much law on his side as his power extends (or more accurately, as his power is believed to extend).

[114]

94.

Die drei Phasen der bisherigen Moralität. - Es ist das erste Zeichen, dass das Thier Mensch geworden ist, wenn sein Handeln nicht mehr auf das augenblickliche Wohlbefinden, sondern auf das dauernde sich bezieht, dass der Mensch also nützlich, zweckmässig wird.- da bricht zuerst die freie Herrschaft der Vernunft heraus. Eine noch höhere Stufe ist erreicht, wenn er nach dem Princip der Ehre handelt; vermöge desselben ordnet er sich ein, unterwirft sich gemeinsamen Empfindungen, und das erhebt ihn hoch über die Phase, in der nur die persönlich verstandene Nützlichkeit ihn leitete: er achtet und will geachtet werden, das heisst: er begreift den Nutzen als abhängig von dem, was er über Andere, was Andere über ihn meinen. Endlich handelt er, auf der höchsten Stufe der bisherigen Moralität nach seinem Maassstab über die Dinge und Menschen, er selber bestimmt für sich und Andere, was ehrenvoll, was nützlich ist; er ist zum Gesetzgeber der Meinungen geworden, gemäss dem immer höher entwickelten Begriff des Nützlichen und Ehrenhaften. Die Erkenntnis befähigt ihn, das Nützlichste, das heisst den allgemeinen dauernden Nutzen dem persönlichen, die ehrende Anerkennung von allgemeiner dauernder Geltung der momentanen voranzustellen; er lebt und handelt als Collectiv-Individuum.

The Three Phases of Morality Hitherto.—It is the first evidence that the animal has become human when his conduct ceases to be based upon the immediately expedient, but upon the permanently useful; when he has, therefore, grown utilitarian, capable of purpose. Thus is manifested the first rule of reason. A still higher stage is attained when he regulates his conduct upon the basis of honor, by means of which he gains mastery of himself and surrenders his desires to principles; this lifts him far above the phase in which he was actuated only by considerations of personal advantage as he understood it. He respects and wishes to be respected. This means that he comprehends utility as a thing dependent upon what his opinion of others is and their opinion of him. Finally he regulates his conduct (the highest phase of morality hitherto attained) by his own standard of men and things. He himself decides, for himself and for others, what is honorable and what is useful. He has become a law giver to opinion, upon the basis of his ever higher developing conception of the utilitarian and the honorable. Knowledge makes him capable of placing the highest utility, (that is, the universal, enduring utility) before merely personal utility,—of placing ennobling[115] recognition of the enduring and universal before the merely temporary: he lives and acts as a collective individuality.

95.

Moral des reifen Individuums. - Man hat bisher als das eigentliche Kennzeichen der moralischen Handlung das Unpersönliche angesehen; und es ist nachgewiesen, dass zu Anfang die Rücksicht auf den allgemeinen Nutzen es war, derentwegen man alle unpersönlichen Handlungen lobte und auszeichnete. Sollte nicht eine bedeutende Umwandelung dieser Ansichten bevorstehen, jetzt wo immer besser eingesehen wird, dass gerade in der möglichst persönlichen Rücksicht auch der Nutzen für das Allgemeine am grössten ist: so dass gerade das streng persönliche Handeln dem jetzigen Begriff der Moralität (als einer allgemeinen Nützlichkeit) entspricht? Aus sich eine ganze Person machen und in Allem, was man thut, deren höchstes Wohl in's Auge fassen - das bringt weiter, als jene mitleidigen Regungen und Handlungen zu Gunsten Anderer. Wir Alle leiden freilich noch immer an der allzugeringen Beachtung des Persönlichen an uns, es ist schlecht ausgebildet, - gestehen wir es uns ein: man hat vielmehr unsern Sinn gewaltsam von ihm abgezogen und dem Staate, der Wissenschaft, dem Hülfebedürftigen zum Opfer angeboten, wie als ob es das Schlechte wäre, das geopfert werden müsste. Auch jetzt wollen wir für unsere Mitmenschen arbeiten, aber nur so weit, als wir unsern eigenen höchsten Vortheil in dieser Arbeit finden, nicht mehr, nicht weniger. Es kommt nur darauf an, was man als seinen Vortheil versteht; gerade das unreife, unentwickelte, rohe Individuum wird ihn auch am rohesten verstehen.

Ethic of the Developed Individual.—Hitherto the altruistic has been looked upon as the distinctive characteristic of moral conduct, and it is manifest that it was the consideration of universal utility that prompted praise and recognition of altruistic conduct. Must not a radical departure from this point of view be imminent, now that it is being ever more clearly perceived that in the most personal considerations the most general welfare is attained: so that conduct inspired by the most personal considerations of advantage is just the sort which has its origin in the present conception of morality (as a universal utilitarianism)? To contemplate oneself as a complete personality and bear the welfare of that personality in mind in all that one does—this is productive of better results than any sympathetic susceptibility and conduct in behalf of others. Indeed we all suffer from such disparagement of our own personalities, which are at present made to deteriorate from neglect. Capacity is, in fact, divorced from our personality in most cases, and sacrificed to the state, to[116] science, to the needy, as if it were the bad which deserved to be made a sacrifice. Now, we are willing to labor for our fellowmen but only to the extent that we find our own highest advantage in so doing, no more, no less. The whole matter depends upon what may be understood as one's advantage: the crude, undeveloped, rough individualities will be the very ones to estimate it most inadequately.

96.

Sitte und sittlich.- Moralisch, sittlich, ethisch sein heisst Gehorsam gegen ein altbegründetes Gesetz oder Herkommen haben. Ob man mit Mühe oder gern sich ihm unterwirft, ist dabei gleichgültig, genug, dass man es thut. "Gut" nennt man Den, welcher wie von Natur, nach langer Vererbung, also leicht und gern das Sittliche thut, je nachdem diess ist (zum Beispiel Rache übt, wenn Rache-üben, wie bei den älteren Griechen, zur guten Sitte gehört). Er wird gut genannt, weil er "wozu" gut ist; da aber Wohlwollen, Mitleiden und dergleichen in dem Wechsel der Sitten immer als "gut wozu", als nützlich empfunden wurde, so nennt man jetzt vornehmlich den Wohlwollenden, Hülfreichen "gut". Böse ist "nicht sittlich" (unsittlich) sein, Unsitte üben, dem Herkommen widerstreben, wie vernünftig oder dumm dasselbe auch sei; das Schädigen des Nächsten ist aber in allen den Sittengesetzen der verschiedenen Zeiten vornehmlich als schädlich empfunden worden, so dass wir jetzt namentlich bei dem Wort "böse" an die freiwillige Schädigung des Nächsten denken. Nicht das "Egoistische" und das "Unegoistische" ist der Grundgegensatz, welcher die Menschen zur Unterscheidung von sittlich und unsittlich, gut und böse gebracht hat, sondern: Gebundensein an ein Herkommen, Gesetz, und Lösung davon. Wie das Herkommen entstanden ist, das ist dabei gleichgültig, jedenfalls ohne Rücksicht auf gut und böse oder irgend einen immanenten kategorischen Imperativ, sondern vor Allem zum Zweck der Erhaltung einer Gemeinde, eines Volkes; jeder abergläubische Brauch, der auf Grund eines falsch gedeuteten Zufalls entstanden ist, erzwingt ein Herkommen, welchem zu folgen sittlich ist; sich von ihm lösen ist nämlich gefährlich, für die Gemeinschaft noch mehr schädlich als für den Einzelnen (weil die Gottheit den Frevel und jede Verletzung ihrer Vorrechte an der Gemeinde und nur insofern auch am Individuum straft). Nun wird jedes Herkommen fortwährend ehrwürdiger, je weiter der Ursprung abliegt, je mehr dieser vergessen ist; die ihm gezollte Verehrung häuft sich von Generation zu Generation auf, das Herkommen wird zuletzt heilig und erweckt Ehrfurcht; und so ist jedenfalls die Moral der Pietät eine viel ältere Moral, als die, welche unegoistische Handlungen verlangt.

Usage and Ethic.—To be moral, virtuous, praiseworthy means to yield obedience to ancient law and hereditary usage. Whether this obedience be rendered readily or with difficulty is long immaterial. Enough that it be rendered. "Good" finally comes to mean him who acts in the traditional manner, as a result of heredity or natural disposition, that is to say does what is customary with scarcely an effort, whatever that may be (for example revenges injuries when revenge, as with the ancient Greeks, was part of good morals). He is called good because he is good "to some purpose," and as benevolence, sympathy, considerateness, moderation and the like come, in the general course of conduct, to be finally recognized as "good to some purpose" (as utilitarian) the benevolent man, the helpful[117] man, is duly styled "good". (At first other and more important kinds of utilitarian qualities stand in the foreground.) Bad is "not habitual" (unusual), to do things not in accordance with usage, to oppose the traditional, however rational or the reverse the traditional may be. To do injury to one's social group or community (and to one's neighbor as thus understood) is looked upon, through all the variations of moral laws, in different ages, as the peculiarly "immoral" act, so that to-day we associate the word "bad" with deliberate injury to one's neighbor or community. "Egoistic" and "non-egoistic" do not constitute the fundamental opposites that have brought mankind to make a distinction between moral and immoral, good and bad; but adherence to traditional custom, and emancipation from it. How the traditional had its origin is quite immaterial; in any event it had no reference to good and bad or any categorical imperative but to the all important end of maintaining and sustaining the community, the race, the confederation, the nation. Every superstitious custom that originated in a misinterpreted event or casualty entailed some tradition, to adhere to which is moral. To break loose from it is dangerous, more prejudicial to the community than to the individual (because divinity visits the consequences of impiety and sacrilege upon the community rather[118] than upon the individual). Now every tradition grows ever more venerable—the more remote is its origin, the more confused that origin is. The reverence due to it increases from generation to generation. The tradition finally becomes holy and inspires awe. Thus it is that the precept of piety is a far loftier morality than that inculcated by altruistic conduct.

97.

Die Lust in der Sitte. - Eine wichtige Gattung der Lust und damit der Quelle der Moralität entsteht aus der Gewohnheit. Man thut das Gewohnte leichter, besser, also lieber, man empfindet dabei eine Lust, und weiss aus der Erfahrung, dass das Gewohnte sich bewährt hat, also nützlich ist; eine Sitte, mit der sich leben lässt, ist als heilsam, förderlich bewiesen, im Gegensatz zu allen neuen, noch nicht bewährten Versuchen. Die Sitte ist demnach die Vereinigung des Angenehmen und des Nützlichen, überdiess macht sie kein Nachdenken nöthig. Sobald der Mensch Zwang ausüben kann, übt er ihn aus, um seine Sitten durchzusetzen und einzuführen, denn für ihn sind sie die bewährte Lebensweisheit. Ebenso zwingt eine Gemeinschaft von Individuen jedes einzelne zur selben Sitte. Hier ist der Fehlschluss: weil man sich mit einer Sitte wohl fühlt oder wenigstens weil man vermittelst derselben seine Existenz durchsetzt, so ist diese Sitte nothwendig, denn sie gilt als die einzige Möglichkeit, unter der man sich wohl fühlen kann; das Wohlgefühl des Lebens scheint allein aus ihr hervorzuwachsen. Diese Auffassung des Gewohnten als einer Bedingung des Daseins wird bis auf die kleinsten Einzelheiten der Sitte durchgeführt: da die Einsicht in die wirkliche Causalität bei den niedrig stehenden Völkern und Culturen sehr gering ist, so sieht man mit abergläubischer Furcht darauf, dass Alles seinen gleichen Gang gehe; selbst wo die Sitte schwer, hart, lästig ist, wird sie ihrer scheinbar höchsten Nützlichkeit wegen bewahrt. Man weiss nicht, dass der selbe Grad von Wohlbefinden auch bei anderen Sitten bestehen kann und dass selbst höhere Grade sich erreichen lassen. Wohl aber nimmt man wahr, dass alle Sitten, auch die härtesten, mit der Zeit angenehmer und milder werden, und dass auch die strengste Lebensweise zur Gewohnheit und damit zur Lust werden kann.

Delight in the Moral.—A potent species of joy (and thereby the source of morality) is custom. The customary is done more easily, better, therefore preferably. A pleasure is felt in it and experience thus shows that since this practice has held its own it must be good. A manner or moral that lives and lets live is thus demonstrated advantageous, necessary, in contradistinction to all new and not yet adopted practices. The custom is therefore the blending of the agreeable and the useful. Moreover it does not require deliberation. As soon as man can exercise compulsion, he exercises it to enforce and establish his customs, for they are to him attested lifewisdom. So, too, a community of individuals constrains each one of their number to adopt the same moral or custom. The error herein is this: Because a certain custom[119] has been agreeable to the feelings or at least because it proves a means of maintenance, this custom must be imperative, for it is regarded as the only thing that can possibly be consistent with well being. The well being of life seems to spring from it alone. This conception of the customary as a condition of existence is carried into the slightest detail of morality. Inasmuch as insight into true causation is quite restricted in all inferior peoples, a superstitious anxiety is felt that everything be done in due routine. Even when a custom is exceedingly burdensome it is preserved because of its supposed vital utility. It is not known that the same degree of satisfaction can be experienced through some other custom and even higher degrees of satisfaction, too. But it is fully appreciated that all customs do become more agreeable with the lapse of time, no matter how difficult they may have been found in the beginning, and that even the severest way of life may be rendered a matter of habit and therefore a pleasure.

98.

Lust und socialer Instinct. - Aus seinen Beziehungen zu andern Menschen gewinnt der Mensch eine neue Gattung von Lust zu jenen Lustempfindungen hinzu, welche er aus sich selber nimmt; wodurch er das Reich der Lustempfindung überhaupt bedeutend umfänglicher macht. Vielleicht hat er mancherlei, das hierher gehört, schon von den Thieren her überkommen, welche ersichtlich Lust empfinden, wenn sie mit einander spielen, namentlich die Mütter mit den jungen. Sodann gedenke man der geschlechtlichen Beziehungen, welche jedem Männchen ungefähr jedes Weibchen interessant in Ansehung der Lust erscheinen lassen, und umgekehrt. Die Lustempfindung auf Grund menschlicher Beziehungen macht im Allgemeinen den Menschen besser; die gemeinsame Freude, die Lust mitsammen genossen, erhöht dieselbe, sie giebt dem Einzelnen Sicherheit, macht ihn gutmüthiger, löst das Misstrauen, den Neid: denn man fühlt sich selber wohl und sieht den Andern in gleicher Weise sich wohl fühlen. Die gleichartigen Aeusserungen der Lust erwecken die Phantasie der Mitempfindung, das Gefühl etwas Gleiches zu sein: das Selbe thun auch die gemeinsamen Leiden, die selben Unwetter, Gefahren, Feinde. Darauf baut sich dann wohl das älteste Bündniss auf: dessen Sinn die gemeinsame Beseitigung und Abwehr einer drohenden Unlust zum Nutzen jedes Einzelnen ist. Und so wächst der sociale Instinct aus der Lust heraus.

Pleasure and Social Instinct.—Through his relations with other men, man derives a new species of delight in those pleasurable emotions which his own personality affords him; whereby[120] the domain of pleasurable emotions is made infinitely more comprehensive. No doubt he has inherited many of these feelings from the brutes, which palpably feel delight when they sport with one another, as mothers with their young. So, too, the sexual relations must be taken into account: they make every young woman interesting to every young man from the standpoint of pleasure, and conversely. The feeling of pleasure originating in human relationships makes men in general better. The delight in common, the pleasures enjoyed together heighten one another. The individual feels a sense of security. He becomes better natured. Distrust and malice dissolve. For the man feels the sense of benefit and observes the same feeling in others. Mutual manifestations of pleasure inspire mutual sympathy, the sentiment of homogeneity. The same effect is felt also at mutual sufferings, in a common danger, in stormy weather. Upon such a foundation are built the earliest alliances: the object of which is the mutual protection and safety from threatening misfortunes, and the welfare of each individual. And thus the social instinct develops from pleasure.

99.

Das Unschuldige an den sogenannten bösen Handlungen. - Alle "bösen" Handlungen sind motivirt durch den Trieb der Erhaltung oder, noch genauer, durch die Absicht auf Lust und Vermeidung der Unlust des Individuums; als solchermaassen motivirt, aber nicht böse. "Schmerz bereiten an sich" existirt nicht, ausser im Gehirn der Philosophen, ebensowenig "Lust bereiten an sich" (Mitleid im Schopenhauerischen Sinne). In dem Zustand vor dem Staate tödten wir das Wesen, sei es Affe oder Mensch, welches uns eine Frucht des Baumes vorwegnehmen will, wenn wir gerade Hunger haben und auf den Baum zulaufen: wie wir es noch jetzt bei Wanderungen in unwirthlichen Gegenden mit dem Thiere thun würden. - Die bösen Handlungen, welche uns jetzt am meisten empören, beruhen auf dem Irrthume, dass der Andere, welcher sie uns zufügt, freien Willen habe, also dass es in seinem Belieben gelegen habe, uns diess Schlimme nicht anzuthun. Dieser Glaube an das Belieben erregt den Hass, die Rachlust, die Tücke, die ganze Verschlechterung der Phantasie, während wir einem Thiere viel weniger zürnen, weil wir diess als unverantwortlich betrachten. Leid thun nicht aus Erhaltungstrieb, sondern zur Vergeltung - ist Folge eines falschen Urtheils und desshalb ebenfalls unschuldig. Der Einzelne kann im Zustande, welcher vor dem Staate liegt, zur Abschreckung andere Wesen hart und grausam behandeln: um seine Existenz durch solche abschreckende Proben seiner Macht sicher zu stellen. So handelt der Gewaltthätige, Mächtige, der ursprüngliche Staatengründer, welcher sich die Schwächeren unterwirft. Er hat dazu das Recht, wie es jetzt noch der Staat sich nimmt; oder vielmehr: es giebt kein Recht, welches diess hindern kann. Es kann erst dann der Boden für alle Moralität zurecht gemacht werden, wenn ein grösseres Individuum oder ein Collectiv-Individuum, zum Beispiel die Gesellschaft, der Staat, die Einzelnen unterwirft, also aus ihrer Vereinzelung herauszieht und in einen Verband einordnet. Der Moralität geht der Zwang voraus, ja sie selber ist noch eine Zeit lang Zwang, dem man sich, zur Vermeidung der Unlust, fügt. Später wird sie Sitte, noch später freier Gehorsam, endlich beinahe Instinct: dann ist sie wie alles lang Gewöhnte und Natürliche mit Lust verknüpft - und heisst nun Tugend.

The Guiltless Nature of So-Called Bad Acts.—All "bad" acts are inspired by the impulse[121] to self preservation or, more accurately, by the desire for pleasure and for the avoidance of pain in the individual. Thus are they occasioned, but they are not, therefore, bad. "Pain self prepared" does not exist, except in the brains of the philosophers, any more than "pleasure self prepared" (sympathy in the Schopenhauer sense). In the condition anterior to the state we kill the creature, be it man or ape, that attempts to pluck the fruit of a tree before we pluck it ourselves should we happen to be hungry at the time and making for that tree: as we would do to-day, so far as the brute is concerned, if we were wandering in savage regions.—The bad acts which most disturb us at present do so because of the erroneous supposition that the one who is guilty of them towards us has a free will in the matter and that it was within his discretion not to have done these evil things. This belief in discretionary power inspires hate, thirst for revenge, malice, the entire perversion of the mental processes, whereas we would feel in no way incensed against the brute, as we hold it irresponsible. To inflict pain not from the instinct of self preservation but in requital—this is the consequence of false judgment and is equally a guiltless course of conduct. The individual can, in that condition which is anterior to the state, act with fierceness and violence for the intimidation[122] of another creature, in order to render his own power more secure as a result of such acts of intimidation. Thus acts the powerful, the superior, the original state founder, who subjugates the weaker. He has the right to do so, as the state nowadays assumes the same right, or, to be more accurate, there is no right that can conflict with this. A foundation for all morality can first be laid only when a stronger individuality or a collective individuality, for example society, the state, subjects the single personalities, hence builds upon their unification and establishes a bond of union. Morality results from compulsion, it is indeed itself one long compulsion to which obedience is rendered in order that pain may be avoided. At first it is but custom, later free obedience and finally almost instinct. At last it is (like everything habitual and natural) associated with pleasure—and is then called virtue.

100.

Scham.- Die Scham existirt überall, wo es ein "Mysterium" giebt; diess aber ist ein religiöser Begriff, welcher in der älteren Zeit der menschlichen Cultur einen grossen Umfang hatte. Ueberall gab es umgränzte Gebiete, zu welchen das göttliche Recht den Zutritt versagte, ausser unter bestimmten Bedingungen: zu allererst ganz räumlich, insofern gewisse Stätten vom Fusse der Uneingeweihten nicht zu betreten waren und in deren Nähe Diese Schauder und Angst empfanden. Diess Gefühl wurde vielfach auf andere Verhältnisse übertragen, zum Beispiel auf die geschlechtlichen Verhältnisse, welche als ein Vorrecht und Adyton des reiferen Alters den Blicken der Jugend, zu deren Vortheil, entzogen werden sollten: Verhältnisse, zu deren Schutz und Heilighaltung viele Götter thätig und im ehelichen Gemache als Wächter aufgestellt gedacht wurden. (Im Türkischen heisst desshalb diess Gemach Harem "Heiligthum", wird also mit demselben Worte bezeichnet, welches für die Vorhöfe der Moscheen üblich ist.) So ist das Königthum als ein Centrum, von wo Macht und Glanz ausstrahlt, dem Unterworfenen ein Mysterium voller Heimlichkeit und Scham: wovon viele Nachwirkungen noch jetzt, unter Völkern, die sonst keineswegs zu den verschämten gehören, zu fühlen sind. Ebenso ist die ganze Welt innerer Zustände, die sogenannte "Seele", auch jetzt noch für alle Nicht-Philosophen ein Mysterium, nachdem diese, endlose Zeit hindurch, als göttlichen Ursprungs, als göttlichen Verkehrs würdig geglaubt wurde: sie ist demnach ein Adyton und erweckt Scham.

Shame.—Shame exists wherever a "mystery" exists: but this is a religious notion which in the earlier period of human civilization had great vogue. Everywhere there were circumscribed spots to which access was denied on account of some divine law, except in special circumstances.[123] At first these spots were quite extensive, inasmuch as stipulated areas could not be trod by the uninitiated, who, when near them, felt tremors and anxieties. This sentiment was frequently transferred to other relationships, for example to sexual relations, which, as the privilege and gateway of mature age, must be withdrawn from the contemplation of youth for its own advantage: relations which many divinities were busy in preserving and sanctifying, images of which divinities were duly placed in marital chambers as guardians. (In Turkish such an apartment is termed a harem or holy thing, the same word also designating the vestibule of a mosque). So, too, Kingship is regarded as a centre from which power and brilliance stream forth, as a mystery to the subjects, impregnated with secrecy and shame, sentiments still quite operative among peoples who in other respects are without any shame at all. So, too, is the whole world of inward states, the so-called "soul," even now, for all non-philosophical persons, a "mystery," and during countless ages it was looked upon as a something of divine origin, in direct communion with deity. It is, therefore, an adytum and occasions shame.

101.

Richtet nicht. - Man muss sich hüten, bei der Betrachtung früherer Perioden nicht in ein ungerechtes Schimpfen zu gerathen. Die Ungerechtigkeit in der Sclaverei, die Grausamkeit in der Unterwerfung von Personen und Völkern ist nicht mit unserem Maasse zu messen. Denn damals war der Instinct der Gerechtigkeit noch nicht so weit gebildet. Wer darf dem Genfer Calvin die Verbrennung des Arztes Servet vorwerfen? Es war eine consequente aus seinen Ueberzeugungen fliessende Handlung, und ebenso hatte die Inquisition ein gutes Recht; nur waren die herrschenden Ansichten falsch und ergaben eine Consequenz, welche uns hart erscheint, weil uns jene Ansichten fremd geworden sind. Was ist übrigens Verbrennen eines Einzelnen im Vergleich mit ewigen Höllenstrafen für fast Alle! Und doch beherrschte diese Vorstellung damals alle Welt, ohne mit ihrer viel grösseren Schrecklichkeit der Vorstellung von einem Gotte wesentlich Schaden zu thun. Auch bei uns werden politische Sectirer hart und grausam behandelt, aber weil man an die Nothwendigkeit des Staates zu glauben gelernt hat, so empfindet man hier die Grausamkeit nicht so sehr wie dort, wo wir die Anschauungen verwerfen. Die Grausamkeit gegen Thiere bei Kindern und Italiänern geht auf Unverständniss zurück; das Thier ist namentlich durch die Interessen der kirchlichen Lehre zu weit hinter den Menschen zurückgesetzt worden. - Auch mildert sich vieles Schreckliche und Unmenschliche in der Geschichte, an welches man kaum glauben möchte, durch die Betrachtung, dass der Befehlende und der Ausführende andere Personen sind: ersterer hat den Anblick nicht und daher nicht den starken Phantasie-Eindruck, letzterer gehorcht einem Vorgesetzten und fühlt sich unverantwortlich. Die meisten Fürsten und Militärchefs erscheinen, aus Mangel an Phantasie, leicht grausam und hart, ohne es zu sein. - Der Egoismus ist nicht böse, weil die Vorstellung vom "Nächsten" -das Wort ist christlichen Ursprungs und entspricht der Wahrheit nicht - in uns sehr schwach ist; und wir uns gegen ihn beinahe wie gegen Pflanze und Stein frei und unverantwortlich fühlen. Dass der Andere leidet, ist zu lernen: und völlig kann es nie gelernt werden.

Judge Not.—Care must be taken, in the contemplation of earlier ages, that there be no falling[124] into unjust scornfulness. The injustice in slavery, the cruelty in the subjugation of persons and peoples must not be estimated by our standard. For in that period the instinct of justice was not so highly developed. Who dare reproach the Genoese Calvin for burning the physician Servetus at the stake? It was a proceeding growing out of his convictions. And the Inquisition, too, had its justification. The only thing is that the prevailing views were false and led to those proceedings which seem so cruel to us, simply because such views have become foreign to us. Besides, what is the burning alive of one individual compared with eternal hell pains for everybody else? And yet this idea then had hold of all the world without in the least vitiating, with its frightfulness, the other idea of a god. Even we nowadays are hard and merciless to political revolutionists, but that is because we are in the habit of believing the state a necessity, and hence the cruelty of the proceeding is not so much understood as in the other cases where the points of view are repudiated. The cruelty to animals shown by children and Italians is due to the same misunderstanding. The animal, owing to the exigencies of the church catechism, is placed too far below the level of mankind.—Much, too, that is frightful and inhuman in history, and which is almost incredible, is rendered[125] less atrocious by the reflection that the one who commands and the one who executes are different persons. The former does not witness the performance and hence it makes no strong impression on him. The latter obeys a superior and hence feels no responsibility. Most princes and military chieftains appear, through lack of true perception, cruel and hard without really being so.—Egoism is not bad because the idea of the "neighbor"—the word is of Christian origin and does not correspond to truth—is very weak in us, and we feel ourselves, in regard to him, as free from responsibility as if plants and stones were involved. That another is in suffering must be learned and it can never be wholly learned.

102.

"Der Mensch handelt immer gut." - Wir klagen die Natur nicht als unmoralisch an, wenn sie uns ein Donnerwetter schickt und uns nass macht: warum nennen wir den schädigenden Menschen unmoralisch? Weil wir hier einen willkürlich waltenden, freien Willen, dort Nothwendigkeit annehmen. Aber diese Unterscheidung ist ein Irrthum. Sodann: selbst das absichtliche Schädigen nennen wir nicht unter allen Umständen unmoralisch; man tödtet z.B. eine Mücke unbedenklich mit Absicht, blos weil uns ihr Singen missfällt, man straft den Verbrecher absichtlich und thut ihm Leid an, um uns und die Gesellschaft zu schützen. Im ersten Falle ist es das Individuum, welches, um sich zu erhalten oder selbst um sich keine Unlust zu machen, absichtlich Leid thut; im zweiten der Staat. Alle Moral lässt absichtliches Schadenthun gelten bei Nothwehr: das heisst wenn es sich um die Selbsterhaltung handelt! Aber diese beiden Gesichtspuncte genügen, um alle bösen Handlungen gegen Menschen, von Menschen ausgeübt, zu erklären: man will für sich Lust oder will Unlust abwehren; in irgend einem Sinne handelt es sich immer um Selbsterhaltung. Sokrates und Plato haben Recht: was auch der Mensch thue, er thut immer das Gute, das heisst: Das, was ihm gut (nützlich) scheint, je nach dem Grade seines Intellectes, dem jedesmaligen Maasse seiner Vernünftigkeit.

"Man Always Does Right."—We do not blame nature when she sends a thunder storm and makes us wet: why then do we term the man who inflicts injury immoral? Because in the latter case we assume a voluntary, ruling, free will, and in the former necessity. But this distinction is a delusion. Moreover, even the intentional infliction of injury is not, in all circumstances termed immoral. Thus, we kill a fly intentionally[126] without thinking very much about it, simply because its buzzing about is disagreeable; and we punish a criminal and inflict pain upon him in order to protect ourselves and society. In the first case it is the individual who, for the sake of preserving himself or in order to spare himself pain, does injury with design: in the second case, it is the state. All ethic deems intentional infliction of injury justified by necessity; that is when it is a matter of self preservation. But these two points of view are sufficient to explain all bad acts done by man to men. It is desired to obtain pleasure or avoid pain. In any sense, it is a question, always, of self preservation. Socrates and Plato are right: whatever man does he always does right: that is, does what seems to him good (advantageous) according to the degree of advancement his intellect has attained, which is always the measure of his rational capacity.

103.

Das Harmlose an der Bosheit. - Die Bosheit hat nicht das Leid des Andern an sich zum Ziele, sondern unsern eigenen Genuss, zum Beispiel als Rachegefühl oder als stärkere Nervenaufregung. Schon jede Neckerei zeigt, wie es Vergnügen macht, am Andern unsere Macht auszulassen und es zum lustvollen Gefühle des Uebergewichts zu bringen. Ist nun das Unmoralische daran, Lust auf Grund der Unlust Anderer zu haben? Ist Schadenfreude teuflisch, wie Schopenhauer sagt? Nun machen wir uns in der Natur Lust durch Zerbrechen von Zweigen, Ablösen von Steinen, Kampf mit wilden Thieren und zwar, um unserer Kraft dabei bewusst zu werden. Das Wissen darum, dass ein Anderer durch uns leidet, soll hier die selbe Sache, in Bezug auf welche wir uns sonst unverantwortlich fühlen, unmoralisch machen? Aber wüsste man diess nicht, so hätte man die Lust an seiner eigenen Ueberlegenheit auch nicht dabei, diese kann eben sich nur im Leide des Anderen zuerkennen geben, zum Beispiel bei der Neckerei. Alle Lust an sich selber ist weder gut noch böse; woher sollte die Bestimmung kommen, dass man, um Lust an sich selber zu haben, keine Unlust Anderer erregen dürfe? Allein vom Gesichtspuncte des Nutzens her, das heisst aus Rücksicht auf die Folgen, auf eventuelle Unlust, wenn der Geschädigte oder der stellvertretende Staat Ahndung und Rache erwarten lässt: nur Diess kann ursprünglich den Grund abgegeben haben, solche Handlungen sich zu versagen. - Das Mitleid hat ebensowenig die Lust des Andern zum Ziele, als, wie gesagt, die Bosheit den Schmerz des Andern an sich. Denn es birgt mindestens zwei (vielleicht mehr) Elemente einer persönlichen Lust in sich und ist dergestalt Selbstgenuss: einmal als Lust der Emotion, welcher Art Mitleid in der Tragödie ist, und dann, wenn es zur That treibt, als Lust der Befriedigung in der Ausübung der Macht. Steht uns überdiess eine leidende Person sehr nahe, so nehmen durch Ausübung mitleidvoller Handlungen uns selbst ein Leid ab. - Abgesehen von einigen Philosophen, so haben die Menschen das Mitleid, in der Rangfolge moralischer Empfindungen immer ziemlich tief gestellt: mit Recht.

The Inoffensive in Badness.—Badness has not for its object the infliction of pain upon others but simply our own satisfaction as, for instance, in the case of thirst for vengeance or of nerve excitation. Every act of teasing shows what pleasure is caused by the display of our[127] power over others and what feelings of delight are experienced in the sense of domination. Is there, then, anything immoral in feeling pleasure in the pain of others? Is malicious joy devilish, as Schopenhauer says? In the realm of nature we feel joy in breaking boughs, shattering rocks, fighting with wild beasts, simply to attest our strength thereby. Should not the knowledge that another suffers on our account here, in this case, make the same kind of act, (which, by the way, arouses no qualms of conscience in us) immoral also? But if we had not this knowledge there would be no pleasure in one's own superiority or power, for this pleasure is experienced only in the suffering of another, as in the case of teasing. All pleasure is, in itself, neither good nor bad. Whence comes the conviction that one should not cause pain in others in order to feel pleasure oneself? Simply from the standpoint of utility, that is, in consideration of the consequences, of ultimate pain, since the injured party or state will demand satisfaction and revenge. This consideration alone can have led to the determination to renounce such pleasure.—Sympathy has the satisfaction of others in view no more than, as already stated, badness has the pain of others in view. For there are at least two (perhaps many more) elementary ingredients in personal gratification which enter largely[128] into our self satisfaction: one of them being the pleasure of the emotion, of which species is sympathy with tragedy, and another, when the impulse is to action, being the pleasure of exercising one's power. Should a sufferer be very dear to us, we divest ourselves of pain by the performance of acts of sympathy.—With the exception of some few philosophers, men have placed sympathy very low in the rank of moral feelings: and rightly.

104.

Nothwehr.- Wenn man überhaupt die Nothwehr als moralisch gelten lässt, so muss man fast alle Aeusserungen des sogenannten unmoralischen Egoismus' auch gelten lassen: man thut Leid an, raubt oder tödtet, um sich zu erhalten oder um sich zu schützen, dem persönlichen Unheil vorzubeugen; man lügt, wo List und Verstellung das richtige Mittel der Selbsterhaltung sind. Absichtlich schädigen, wenn es sich um unsere Existenz oder Sicherheit (Erhaltung unseres Wohlbefindens) handelt, wird als moralisch concedirt; der Staat schädigt selber unter diesem Gesichtspunct, wenn er Strafen verhängt. Im unabsichtlichen Schädigen kann natürlich das Unmoralische nicht liegen, da regiert der Zufall. Giebt es denn eine Art des absichtlichen Schädigens, wo es sich nicht um unsere Existenz, um die Erhaltung unseres Wohlbefindens handelt? Giebt es ein Schädigen aus reiner Bosheit, zum Beispiel bei der Grausamkeit? Wenn man nicht weiss, wie weh eine Handlung thut, so ist sie keine Handlung der Bosheit; so ist das Kind gegen das Thier nicht boshaft, nicht böse: es untersucht und zerstört dasselbe wie sein Spielzeug. Weiss man aber je völlig, wie weh eine Handlung einem Andern thut? So weit unser Nervensystem reicht, hüten wir uns vor Schmerz: reichte es weiter, nämlich bis in die Mitmenschen hinein, so würden wir Niemandem ein Leides thun (ausser in solchen Fällen, wo wir es uns selbst thun, also wo wir uns der Heilung halber schneiden, der Gesundheit halber uns mühen und anstrengen). Wir schliessen aus Analogie, dass Etwas jemandem weh thut, und durch die Erinnerung und die Stärke der Phantasie kann es uns dabei selber übel werden. Aber welcher Unterschied bleibt immer zwischen dem Zahnschmerz und dem Schmerze (Mitleiden), welchen der Anblick des Zahnschmerzes hervorruft? Also: bei dem Schädigen aus sogenannter Bosheit ist der Grad des erzeugten Schmerzes uns jedenfalls unbekannt; insofern aber eine Lust bei der Handlung ist (Gefühl der eignen Macht, der eignen starken Erregung), geschieht die Handlung, um das Wohlbefinden des Individuums zu erhalten und fällt somit unter einen ähnlichen Gesichtspunct wie die Nothwehr, die Nothlüge. Ohne Lust kein Leben; der Kampf um die Lust ist der Kampf um das Leben. Ob der Einzelne diesen Kampf so kämpft, dass die Menschen ihn gut, oder so, dass sie ihn böse nennen, darüber entscheidet das Maass und die Beschaffenheit seines Intellects.

Self Defence.—If self defence is in general held a valid justification, then nearly every manifestation of so called immoral egoism must be justified, too. Pain is inflicted, robbery or killing done in order to maintain life or to protect oneself and ward off harm. A man lies when cunning and delusion are valid means of self preservation. To injure intentionally when our safety and our existence are involved, or the continuance of our well being, is conceded to be moral. The state itself injures from this motive when it hangs criminals. In unintentional injury the immoral, of course, can not be present, as accident alone is involved. But is there any sort of intentional injury in which our existence and the maintenance of our well being be not involved?[129] Is there such a thing as injuring from absolute badness, for example, in the case of cruelty? If a man does not know what pain an act occasions, that act is not one of wickedness. Thus the child is not bad to the animal, not evil. It disturbs and rends it as if it were one of its playthings. Does a man ever fully know how much pain an act may cause another? As far as our nervous system extends, we shield ourselves from pain. If it extended further, that is, to our fellow men, we would never cause anyone else any pain (except in such cases as we cause it to ourselves, when we cut ourselves, surgically, to heal our ills, or strive and trouble ourselves to gain health). We conclude from analogy that something pains somebody and can in consequence, through recollection and the power of imagination, feel pain also. But what a difference there always is between the tooth ache and the pain (sympathy) that the spectacle of tooth ache occasions! Therefore when injury is inflicted from so called badness the degree of pain thereby experienced is always unknown to us: in so far, however, as pleasure is felt in the act (a sense of one's own power, of one's own excitation) the act is committed to maintain the well being of the individual and hence comes under the purview of self defence and lying for self preservation. Without pleasure, there is no[130] life; the struggle for pleasure is the struggle for life. Whether the individual shall carry on this struggle in such a way that he be called good or in such a way that he be called bad is something that the standard and the capacity of his own intellect must determine for him.

105.

Die belohnende Gerechtigkeit. - Wer vollständig die Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit begriffen hat, der kann die sogenannte strafende und belohnende Gerechtigkeit gar nicht mehr unter den Begriff der Gerechtigkeit unterbringen: falls diese darin besteht, dass man jedem das Seine giebt. Denn Der, welcher gestraft wird, verdient die Strafe nicht: er wird nur als Mittel benutzt, um fürderhin von gewissen Handlungen abzuschrecken; ebenso verdient Der, welchen man belohnt, diesen Lohn nicht: er konnte ja nicht anders handeln, als er gehandelt hat. Also hat der Lohn nur den Sinn einer Aufmunterung für ihn und Andere, um also zu späteren Handlungen ein Motiv abzugeben; das Lob wird dem Laufenden in der Rennbahn zugerufen, nicht Dem, welcher am Ziele ist. Weder Strafe noch Lohn sind Etwas, das Einem als das Seine zukommt; sie werden ihm aus Nützlichkeitsgründen gegeben, ohne dass er mit Gerechtigkeit Anspruch auf sie zu erheben hätte. Man muss ebenso sagen "der Weise belohnt nicht, weil gut gehandelt worden ist", als man gesagt hat "der Weise straft nicht, weil schlecht gehandelt worden ist, sondern damit nicht schlecht gehandelt werde". Wenn Strafe und Lohn fortfielen, so fielen die kräftigsten Motive, welche von gewissen Handlungen weg, zu gewissen Handlungen hin treiben, fort; der Nutzen der Menschen erheischt ihre Fortdauer; und insofern Strafe und Lohn, Tadel und Lob am empfindlichsten auf die Eitelkeit wirken, so erheischt der selbe Nutzen auch die Fortdauer der Eitelkeit.

Justice that Rewards.—Whoever has fully understood the doctrine of absolute irresponsibility can no longer include the so called rewarding and punishing justice in the idea of justice, if the latter be taken to mean that to each be given his due. For he who is punished does not deserve the punishment. He is used simply as a means to intimidate others from certain acts. Equally, he who is rewarded does not merit the reward. He could not act any differently than he did act. Hence the reward has only the significance of an encouragement to him and others as a motive for subsequent acts. The praise is called out only to him who is running in the race and not to him who has arrived at the goal. Something that comes to someone as his own is neither a punishment nor a reward. It is given to him from utiliarian considerations, without his having any claim to it in justice. Hence one must say "the wise man praises not[131] because a good act has been done" precisely as was once said: "the wise man punishes not because a bad act has been done but in order that a bad act may not be done." If punishment and reward ceased, there would cease with them the most powerful incentives to certain acts and away from other acts. The purposes of men demand their continuance [of punishment and reward] and inasmuch as punishment and reward, blame and praise operate most potently upon vanity, these same purposes of men imperatively require the continuance of vanity.

106.

Am Wasserfall. - Beim Anblick eines Wasserfalles meinen wir in den zahllosen Biegungen, Schlängelungen, Brechungen der Wellen Freiheit des Willens und Belieben zu sehen; aber Alles ist nothwendig, jede Bewegung mathematisch auszurechnen. So ist es auch bei den menschlichen Handlungen; man müsste jede einzelne Handlung vorher ausrechnen können, wenn man allwissend wäre, ebenso jeden Fortschritt der Erkenntniss, jeden Irrthum, jede Bosheit. Der Handelnde selbst steckt freilich in der Illusion der Willkür; wenn in einem Augenblick das Rad der Welt still stände und ein allwissender, rechnender Verstand da wäre, um diese Pausen zu benützen, so könnte er bis in die fernsten Zeiten die Zukunft jedes Wesens weitererzählen und jede Spur bezeichnen, auf der jenes Rad noch rollen wird. Die Täuschung des Handelnden über sich, die Annahme des freien Willens, gehört mit hinein in diesen auszurechnenden Mechanismus.

The Water Fall.—At the sight of a water fall we may opine that in the countless curves, spirations and dashes of the waves we behold freedom of the will and of the impulses. But everything is compulsory, everything can be mathematically calculated. Thus it is, too, with human acts. We would be able to calculate in advance every single action if we were all knowing, as well as every advance in knowledge, every delusion, every bad deed. The acting individual himself is held fast in the illusion of volition. If, on a sudden, the entire movement of the world stopped short, and an all knowing and reasoning intelligence were there to take advantage[132] of this pause, he could foretell the future of every being to the remotest ages and indicate the path that would be taken in the world's further course. The deception of the acting individual as regards himself, the assumption of the freedom of the will, is a part of this computable mechanism.

107.

Unverantwortlichkeit und Unschuld. - Die völlige Unverantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln und sein Wesen ist der bitterste Tropfen, welchen der Erkennende schlucken muss, wenn er gewohnt war, in der Verantwortlichkeit und der Pflicht den Adelsbrief seines Menschenthums zu sehen. Alle seine Schätzungen, Auszeichnungen, Abneigungen sind dadurch entwerthet und falsch geworden: sein tiefstes Gefühl, das er dem Dulder, dem Helden entgegenbrachte, hat einem Irrthume gegolten; er darf nicht mehr loben, nicht tadeln, denn es ist ungereimt, die Natur und die Nothwendigkeit zu loben und zu tadeln. So wie er das gute Kunstwerk liebt, aber nicht lobt, weil es Nichts für sich selber kann, wie er vor der Pflanze steht, so muss er vor den Handlungen der Menschen, vor seinen eignen stehen. Er kann Kraft, Schönheit, Fülle an ihnen bewundern, aber darf keine Verdienste darin finden: der chemische Process und der Streit der Elemente, die Qual des Kranken, der nach Genesung lechzt, sind ebensowenig Verdienste, als jene Seelenkämpfe und Nothzustände, bei denen man durch verschiedene Motive hin- und hergerissen wird, bis man sich endlich für das mächtigste entscheidet - wie man sagt (in Wahrheit aber, bis das mächtigste Motiv über uns entscheidet). Alle diese Motive aber, so hohe Namen wir ihnen geben, sind aus den selben Wurzeln gewachsen, in denen wir die bösen Gifte wohnend glauben; zwischen guten und bösen Handlungen giebt es keinen Unterschied der Gattung, sondern höchstens des Grades. Gute Handlungen sind sublimirte böse; böse Handlungen sind vergröberte, verdummte gute. Das einzige Verlangen des Individuums nach Selbstgenuss (sammt der Furcht, desselben verlustig zu gehen) befriedigt sich unter allen Umständen, der Mensch mag handeln, wie er kann, das heisst wie er muss: sei es in Thaten der Eitelkeit, Rache, Lust, Nützlichkeit, Bosheit, List, sei es in Thaten der Aufopferung, des Mitleids, der Erkenntniss. Die Grade der Urtheilsfähigkeit entscheiden, wohin Jemand sich durch diess Verlangen hinziehen lässt; fortwährend ist jeder Gesellschaft, jedem Einzelnen eine Rangordnung der Güter gegenwärtig, wonach er seine Handlungen bestimmt und die der Anderen beurtheilt. Aber dieser Maassstab wandelt sich fortwährend, viele Handlungen werden böse genannt und sind nur dumm, weil der Grad der Intelligenz, welcher sich für sie entschied, sehr niedrig war. Ja, in einem bestimmten Sinne sind auch jetzt noch alle Handlungen dumm, denn der höchste Grad von menschlicher Intelligenz, der jetzt erreicht werden kann, wird sicherlich noch überboten werden: und dann wird, bei einem Rückblick, all unser Handeln und Urtheilen so beschränkt und übereilt erscheinen, wie uns jetzt das Handeln und Urtheilen zurückgebliebener wilder Völkerschaften beschränkt und übereilt vorkommt. - Diess Alles einzusehen, kann tiefe Schmerzen machen, aber darnach giebt es einen Trost: solche Schmerzen sind Geburtswehen. Der Schmetterling will seine Hülle durchbrechen, er zerrt an ihr, er zerreisst sie: da blendet und verwirrt ihn das unbekannte Licht, das Reich der Freiheit. In solchen Menschen, welche jener Traurigkeit fähig sind - wie wenige werden es sein! - wird der erste Versuch gemacht, ob die Menschheit aus einer moralischen sich in eine weise Menschheit umwandeln könne. Die Sonne eines neuen Evangeliums wirft ihren ersten Strahl auf die höchsten Gipfel in der Seele jener Einzelnen: da ballen sich die Nebel dichter, als je, und neben einander lagert der hellste Schein und die trübste Dämmerung. Alles ist Nothwendigkeit, - so sagt die neue Erkenntniss: und diese Erkenntniss selber ist Nothwendigkeit. Alles ist Unschuld: und die Erkenntniss ist der Weg zur Einsicht in diese Unschuld. Sind Lust, Egoismus, Eitelkeit nothwendig zur Erzeugung der moralischen Phänomene und ihrer höchsten Blüthe, des Sinnes für Wahrheit und Gerechtigkeit der Erkenntniss, war der Irrthum und die Verirrung der Phantasie das einzige Mittel, durch welches die Menschheit sich allmählich zu diesem Grade von Selbsterleuchtung und Selbsterlösung zu erheben vermochte - wer dürfte jene Mittel geringschätzen? Wer dürfte traurig sein, wenn er das Ziel, zu dem jene Wege führen, gewahr wird? Alles auf dem Gebiete der Moral ist geworden, wandelbar, schwankend, Alles ist im Flusse, es ist wahr: - aber Alles ist auch im Strome: nach Einem Ziele hin. Mag in uns die vererbte Gewohnheit des irrthümlichen Schätzens, Liebens, Hassens immerhin fortwalten, aber unter dem Einfluss der wachsenden Erkenntniss wird sie schwächer werden: eine neue Gewohnheit, die des Begreifens, Nicht-Liebens, Nicht-Hassens, Ueberschauens, pflanzt sich allmählich in uns auf dem selben Boden an und wird in Tausenden von Jahren vielleicht mächtig genug sein, um der Menschheit die Kraft zu geben, den weisen, unschuldigen (unschuld-bewussten) Menschen ebenso regelmässig hervorzubringen, wie sie jetzt den unweisen, unbilligen, schuldbewussten Menschen - das heisst die nothwendige Vorstufe, nicht den Gegensatz von jenem - hervorbringt.

Non-Responsibility and Non-Guilt.—The absolute irresponsibility of man for his acts and his nature is the bitterest drop in the cup of him who has knowledge, if he be accustomed to behold in responsibility and duty the patent of nobility of his human nature. All his estimates, preferences, dislikes are thus made worthless and false. His deepest sentiment, with which he honored the sufferer, the hero, sprang from an error. He may no longer praise, no longer blame, for it is irrational to blame and praise nature and necessity. Just as he cherishes the beautiful work of art, but does not praise it (as it is incapable of doing anything for itself), just as he stands in the presence of plants, he must stand in the presence of human conduct, his own included. He may admire strength, beauty, capacity, therein, but he can discern no merit. The chemical process and the conflict of the elements,[133] the ordeal of the invalid who strives for convalescence, are no more merits than the soul-struggles and extremities in which one is torn this way and that by contending motives until one finally decides in favor of the strongest—as the phrase has it, although, in fact, it is the strongest motive that decides for us. All these motives, however, whatever fine names we may give them, have grown from the same roots in which we believe the baneful poisons lurk. Between good and bad actions there is no difference in kind but, at most, in degree. Good acts are sublimated evil. Bad acts are degraded, imbruted good. The very longing of the individual for self gratification (together with the fear of being deprived of it) obtains satisfaction in all circumstances, let the individual act as he may, that is, as he must: be it in deeds of vanity, revenge, pleasure, utility, badness, cunning, be it in deeds of self sacrifice, sympathy or knowledge. The degrees of rational capacity determine the direction in which this longing impels: every society, every individual has constantly present a comparative classification of benefits in accordance with which conduct is determined and others are judged. But this standard perpetually changes. Many acts are called bad that are only stupid, because the degree of intelligence that decided for them was low. Indeed,[134] in a certain sense, all acts now are stupid, for the highest degree of human intelligence that has yet been attained will in time most certainly be surpassed and then, in retrospection, all our present conduct and opinion will appear as narrow and petty as we now deem the conduct and opinion of savage peoples and ages.—To perceive all these things may occasion profound pain but there is, nevertheless, a consolation. Such pains are birth pains. The butterfly insists upon breaking through the cocoon, he presses through it, tears it to pieces, only to be blinded and confused by the strange light, by the realm of liberty. By such men as are capable of this sadness—how few there are!—will the first attempt be made to see if humanity may convert itself from a thing of morality to a thing of wisdom. The sun of a new gospel sheds its first ray upon the loftiest height in the souls of those few: but the clouds are massed there, too, thicker than ever, and not far apart are the brightest sunlight and the deepest gloom. Everything is necessity—so says the new knowledge: and this knowledge is itself necessity. All is guiltlessness, and knowledge is the way to insight into this guiltlessness. If pleasure, egoism, vanity be necessary to attest the moral phenomena and their richest blooms, the instinct for truth and accuracy of knowledge; if delusion[135] and confusion of the imagination were the only means whereby mankind could gradually lift itself up to this degree of self enlightenment and self emancipation—who would venture to disparage the means? Who would have the right to feel sad if made aware of the goal to which those paths lead? Everything in the domain of ethic is evolved, changeable, tottering; all things flow, it is true—but all things are also in the stream: to their goal. Though within us the hereditary habit of erroneous judgment, love, hate, may be ever dominant, yet under the influence of awaking knowledge it will ever become weaker: a new habit, that of understanding, not-loving, not-hating, looking from above, grows up within us gradually and in the same soil, and may, perhaps, in thousands of years be powerful enough to endow mankind with capacity to develop the wise, guiltless man (conscious of guiltlessness) as unfailingly as it now developes the unwise, irrational, guilt-conscious man—that is to say, the necessary higher step, not the opposite of it.